Sven Elvestad

Detektiv Asbjörn Krag: Die bekanntesten Krimis und Detektivgeschichten


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wann ist er denn gekommen, dieser Andreas?«

      Der Lotsenälteste lächelte ungeduldig über die Begriffsstutzigkeit des anderen.

      »Du hast ihn ja selber gesehen«, sagte er. »Er kam gestern abend. Der fremde Mann in dem großen Mantel.«

      Der Segelmacher riß die Augen auf. Zum erstenmal wurde es ihm klar, daß, was der Lotsenälteste da sprach, nicht einfach das leere Gerede eines Trunkenen war. Immerhin blieb der Segelmacher noch von Zweifeln erfüllt. Aber er war glücklich in seinem Zweifel. Innerhalb der Grenzen der Möglichkeit war eine große Freude aufgetaucht. Aber durfte er es wagen, an diese Freude zu glauben?

      »Nein, der war es?« sagte er langsam und staunend.

      »Das war Andreas. Er kam mir gleich so sonderbar vor, so bekannt. Und als er heute abend zu mir hereintrat und mir erzählte, wer er ist, erkannte ich ihn gleich. Fandest du nicht auch, daß er etwas Merkwürdiges an sich hatte, wie er dort drüben im Wirtshaus saß?«

       Der Segelmacher, der die Hoffnung nie ganz aufgegeben hatte und oft grübelnd über seiner Arbeit gesessen hatte: Kommt keiner zurück ... sollen wir nie mehr etwas hören ... der Segelmacher gab zur Antwort:

      »Doch, ich finde auch, daß er aussah, als brächte er eine Botschaft.«

      Und nun wurde auch der Segelmacher von Unruhe gepackt, sie einigten sich darüber, durch den rückwärtigen Ausgang zu gehen, um die Frau des Segelmachers nicht zu wecken. Als sie draußen auf dem Hofe standen, hörten sie hoch oben vom Bergrücken Harmonikatöne. Sie entfernten sich und kamen näher, das war die Jugend, die an Wald und Bergen vorbei über offene Fluren heimwärts zog.

      XIV. Signe sieht den Fremden

       Inhaltsverzeichnis

       Auf dem Tisch der Wirtsstube stand eine hohe, gelbe, brennende Kerze. Das Feuer im Kamin war ausgegangen, nur eine schwache Röte in der Dunkelheit ließ ahnen, daß noch Glut unter der Asche war. Die Fensterläden waren geschlossen, auch die große Brückentür. Draußen aus der Küche hörte man ein leises Knirschen im Schornstein, ein Laut, der im Hause umging wie ein kreisendes Insekt. Draußen hatte sich ein Wind erhoben. Das Haus lag wie unbewohnt da, ganz still, ohne Schritte, ohne Stimmen – eine Stummheit, die vom Keller bis zum Boden ging, etwas Leeres, Lauschendes, das aus allen Winkeln drang und durch die hohe einsame Kerze, die kapellenstill brannte, noch vertieft wurde.

      Aber plötzlich schlug die Lichtflamme zur Seite und flackerte einige Sekunden wie in Stücke gerissen, bis sie sich wieder erhob. Jemand war ins Zimmer gekommen, und durch die offene Tür war der Wind hereingeweht. Es war Signe.

      Signe in demselben abgetragenen Werktagskittel mit den zu kurzen Ärmeln, ohne Überkleid, das Kopftuch auf die Schultern gesunken und das Haar wild verblasen. Signe, noch gejagter als früher am Abend, zitternd vor Erregung, ängstlich bemüht, kein Geräusch zu machen, ganz von mystischer Erwartung erfüllt – süß geheimnisvoll in sich hineinflüsternd, in dem stummen, tödlich schwermütigen Leben des Wahnsinns.

      Sie ging auf die brennende Kerze zu, die sie mit offenen, leeren, blicklosen Augen betrachtete.

      Eine ungeheure innere Welt von Gesichten hatte gleichsam die Wirklichkeit ausgeschlossen. Sie legte die Hände auf die Tischplatte, ein Bild ekstatischen, in sich gekehrten Gebets vor der Altarflamme. Für ihre zerrüttete Seele, die außerhalb der Grenzen des Daseins umherirrte, nahmen selbst die alltäglichsten Dinge visionäre Dimensionen an. Der Abstand von der brennenden Kerze zu der hohen, spitzbogigen Tür war für sie der Abstand vom Unglück zu den heiligen Symbolen des Altars mit dem Blute des Erlösers.

      Nach einiger Zeit ging sie in die Küche hinaus und kam mit noch einigen Kerzen in den Händen zurück.

      Sie zündete die eine an der anderen an und stellte sie in einer Reihe auf den Tisch. Die Wände wurden deutlicher. Die alten Zinnkrüge bekamen Glanz, und sogar die Decke hoch oben mit den dicken, von Rauch und Alter geschwärzten Stützbalken, wurde sichtbar.

      Lange betrachtete sie die flammenden Kerzen mit einer stillen träumerischen Freude, wie sie Kindern oder Narren, die ins Feuer starren, eigen ist. Aber schließlich bekam ihr Gesicht einen staunenden, gefesselten Ausdruck. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, und die Lichter, die sich auf der Netzhaut ihrer Augen abgezeichnet hatten, erweiterten sich zu großen glimmenden Sonnen, farbenschimmernden Nebeln, die über die Wände wogten, pulsierend wie Quallen im Meer.

       Diese hypnotische, dunkle Welt behexte sie förmlich. Sie stand jetzt mitten im Zimmer, ein kleines Menschenwesen nur in dem großen Raum, umwirbelt von dem Zauber, der von ihrem eigenen Sinn ausströmte. Plötzlich breitete sie die Arme wie zum Willkommen nach einem aus, der lange erwartet war, und rief:

      »Ja –«

      Sie wiederholte dieses eine Wort »Ja« mehrmals mit steigender Stärke. Sie erwiderte einen Ruf, der immer ungestümer wurde, weshalb auch ihre eigene Antwort immer eindringlicher klang: »Ja.« Sie hörte es. »Ja, ja.«

      Jetzt geht in der geschlossenen Tür etwas vor, in der großen Doppeltür nach dem Fluß.

      Ein Leben erwacht in den Planken, anfangs ist es nur wie das Schattenspiel der vielen brennenden Kerzen, die Reflexe der Gesichtseindrücke in den Pupillen der Schauenden. Aber bald sammeln sich die Bewegungen zu einem bestimmten Sinn. Etwas Lebendes sucht mühsam die Planken der Tür zu durchdringen. Ein seltsames, schleierartiges, wogendes Leben sickert durch die Zusammenfügungen der Planken und bildet Konturen in dem alten, mattschimmernden Firnis. Die Gestalt beginnt sich zu formen. Sie dringt in die Mitte der Tür vor, wo die beiden Türflügel zusammenschließen, ein Stück über dem Schloß bildet sich ein leuchtender Fleck, ein Gesicht mit einer außerordentlich weißen und schimmernden Stirn ...

      Und so wie wenn man ein Bild über einem andern hervorruft, erscheint eine menschliche Gestalt über dem Querbalken. Anfangs kann man die Struktur der Tür noch durch die dünne Lage der menschlichen Gestalt sehen, aber bald tritt diese Gestalt ganz hervor. Und nun steht er deutlich innerhalb der geschlossenen Tür, der fremde Gast. Es ist Andreas.

      In dem Maße, in dem er deutlicher wurde, ist Signe ihm nähergekommen – mit zögernden Schritten, ängstlich, daß seine Gestalt entweichen und sich wieder in dem schwachen Lichtschimmer der Tür auflösen könnte.

      Nun blieb sie still stehen, indem sie die Handflächen gegeneinander preßte.

      »Ich wußte, du würdest kommen«, sagte sie.

      Andreas war in seinen großen Mantel gehüllt. Der hing in steifen, meergrünen, triefend nassen Falten gerade herab, seine Arme und Hände waren in diesen Falten verborgen und schienen mit dem Mantel verwoben zu sein. Er hatte keinen Hut auf dem Kopfe. Bis tief in die Stirn hing das Haar, klebrig von Feuchtigkeit. Über dem rechten Auge hatte er eine große, blutende Wunde. Ein erstarrter Blutstrom ging von der Stirn über das Ohr zum Hals hinunter. Sein Gesicht drückte keinen Schrecken aus, es zeigte nur eine unermeßliche Müdigkeit und Trauer.

      »Signe,« sagte er, »ich bin schon einen ganzen Tag hier. Warum hast du mich nicht gesehen?«

      »Ich habe dich nicht früher sehen können, erst jetzt. Aber ich habe gefühlt, daß du in der Nähe bist. Als ich draußen auf den Schären stand, kamst du mir vom Meer aus entgegen. Ich wußte, daß du es bist. Ich habe deine Gegenwart im Sternenlicht gespürt. Und vorher wurde mir dein Kommen verkündigt, ganz so, wie ich dich jetzt kommen sah. Den ganzen Tag habe ich mich nach dir gesehnt, so inbrünstig, als ob ich sterben sollte und mich nach der Erlösung sehnte.«

      Andreas neigte den blutbesudelten Kopf.

      »Es ist seltsam,« sagte er, »daß du mich jetzt sehen kannst. Vor einer Stunde ging ich unten auf der Straße an dir vorbei, und da sahst du mich nicht.«

      »Warum ist dein Antlitz so blutig?« fragte Signe.

      »Das ist die Axt,« antwortete er betrübt, »es mußte geschehen, so war es bestimmt, und