Sven Elvestad

Detektiv Asbjörn Krag: Die bekanntesten Krimis und Detektivgeschichten


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scheint, sie geht den Brückenrand entlang.«

      Mutter Kaisa stellte sich jetzt dicht neben Johannes. Irgend etwas in dem Gehaben des Fährmanns ließ ahnen, daß er einen verzweifelten Vorsatz im Sinne hatte. Auch der Lotsenälteste war von dem Aussehen seines alten Freundes betroffen. Es war, als raste Johannes im Fieberwahn, er murmelte unzusammenhängende Worte vor sich hin, erbitterte, aber unverständliche Verwünschungen. Endlich hörten sie ihn sagen:

      »So wie Signe ist, werden auch wir anderen werden ... wir werden nach Stimmen horchen, die es nicht gibt, und Menschen sehen, die nicht da sind ...«

      Kaisa sah ihn geringschätzig an.

      »Jetzt seht Ihr selbst, Lotsenältester, wogegen ich anzukämpfen habe. Bin ich nicht eine glückliche Frau? Ist es nicht notwendig, mich noch im Gotteshaus mit Schmutz zu bewerfen? Soll ich nicht ins Elend hinaus gestoßen werden?«

      »Warum kommt er her?« flüsterte Johannes.

      »Ja, warum kommt Ihr noch so spät und fragt nach dem fremden Gast? Ihn könnt Ihr nicht mehr sprechen.«

      »Warum nicht?«

      »Er ist fort.«

      »Fort ...« Die aufrechte Haltung des Lotsenältesten fiel langsam zusammen. Endlich lächelte er wie verlegen.

      »Aber das ist ja unmöglich«, sagte er.

      »Wir haben ihn selbst vor einer Stunde über den Fluß gerudert,« antwortete Kaisa, »er hat sich ein Fuhrwerk bestellt, das ihn drüben erwarten sollte, und damit ist er weitergefahren.«

      Der Lotsenälteste wußte nicht recht, was er darauf erwidern sollte.

      Kaisa fuhr fort:

      »Solche Leute kommen und ziehen weiter, niemand weiß woher und niemand weiß wohin. Nach ihnen fragt nie jemand.«

      Johannes lachte hart auf.

      »Nie!« fügte er hinzu, »es ist, als wären sie tot.«

       Der Lotsenälteste konnte sich nur schwer von seinem Staunen erholen. In seiner Ratlosigkeit ließ er eine gleichgültige Bemerkung fallen.

      »Mir scheint, ich sah heute abend etwas, das sich im Schilf bewegte«, sagte er.

      »Ja, ja, das war der Fremde, der wegfuhr«, erwiderte Kaisa.

      Plötzlich brach der Lotsenälteste los:

      »Ohne zu erzählen, wer er ist?«

      »Er sagte einen Namen, einen fremden Namen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«

      »Ich versprach, ums Morgengrauen zu ihm zu kommen,« fuhr der Lotsenälteste fort, »er hatte mir etwas zu erzählen. Es fällt mir so schwer, zu glauben, daß er abgereist sein soll. Er war heute abend bei mir. Ich saß allein in meiner Stube und dachte daran, was für ein Tag heute ist. Ich dachte an alle unsere Freunde, die vor zwanzig Jahren verschwunden sind. Und da kam er zu mir herein.«

      Die letzten Worte ließen Johannes den Kopf heben. Er horchte der Stimme des Lotsenältesten mit steigender Aufmerksamkeit. In seinem aufgewühlten Gemütszustand sah er visionär. Allmählich, ganz allmählich stieg eine neue, eine furchtbare Wahrheit vor ihm auf.

      Der Lotsenälteste fuhr fort:

      »Und kaum hatte er nur einige Worte mit mir gesprochen, als ich ihn auch schon erkannte, hört ihr, ich erkannte ihn wieder am Haar und an den Augen, obgleich zwanzig Jahre vergangen waren, seit er fortfuhr. Er wollte mir alles von dem Schiff erzählen, aber er bat mich, bis zum Morgengrauen zu warten, denn er war so erschöpft ... so bange, viele Menschen zu treffen ... vielleicht so bange, Rechenschaft abzulegen. Es war Andreas. Der Fremde war Andreas, hört ihr es, Johannes und Kaisa, wie kann es möglich sein, daß er abgereist ist?«

      Johannes packte mit der linken Hand Kaisa an der Schulter. Er stieß ein Knurren aus, einen tierischen Laut des Schmerzes und der Wut. Kaisas Gesicht wurde starr und erdfahl.

      Da hörte man Lärm unten von der Brücke, Stimmen und Schritte und Ruder, die von einem Boot ausgelegt wurden. Dann ertönte ein Ruf von dort unten:

       »Signe ist ins Wasser gegangen!«

      Bald darauf zeigte sich der Segelmacher in der klaffenden Türöffnung.

      »Der Fluß hat sie behalten«, rief er mit seiner heiseren Stimme. »Sigvard rudert jetzt hinaus, um nach ihr zu suchen. Aber der Fluß hat sie behalten.«

      Da war es, daß Johannes' Knurren in einen wilden, wahnwitzigen Schrei umschlug. Wie der Blitz zuckte ein Messer durch die Luft. Er stürzte sich auf Kaisa. Und ehe jemand es hindern konnte, lag er an der Türschwelle über ihr.

      Dann erhob er sich wieder und reichte dem Lotsenältesten seine blutigen Hände.

      »Führt mich von hier weg«, bat er.

      XVI. Zwei ziehen davon

       Inhaltsverzeichnis

       Tage später, früher Morgen. Der Weg, der vom Fährhaus in Windungen den Bergfirst hinaufführt und weiter durch den Wald landeinwärts, hatte mancherlei Leute gesehen, die man sonst in diesem weltfernen Orte nicht zu sehen pflegte, Gerichtsbeamte und Polizisten. Die Einheimischen hatten hinter ihren Fensterpflanzen viel zu beobachten und über vieles nachzugrübeln. Aber allmählich kamen weniger Fremde, und dann kamen gar keine mehr. Das Wirtshaus war geschlossen, es senkte sich wieder Ruhe auf die Gemüter wie nach einer Sturmnacht.

      Aber so wie die lange krankhafte Versenkung der Menschen in bittere Erinnerungen die Sinne empfänglich für den gewaltsamen Ausbruch jener Sonntagsnacht gemacht hatte, der wie ein wildes Unwetter nach einer drückend schwülen Stille war, so bewirkte auch ihr Hang zu düsteren Grübeleien und Aberglauben, daß die tragische Begebenheit selbst gleichsam in einem Zwielicht aus Wirklichkeit und Traum gewoben vor ihrem Bewußtsein stand.

      Sie hatten einen Gast aus der großen Welt gehabt, jener großen Welt mit den unermeßlichen Meeren, die soviel Rätsel und soviel Tote bergen, aber der Fremde war nur an ihnen vorübergestreift, er war nur an ihrem Bewußtsein vorbeigegangen, wie er an ihren kleinen Fensterchen vorbeiging, ein Wesen, halb lebendig, halb unwirklich – und war dann wieder in dem großen Geheimnis des Daseins untergetaucht.

      Für diese Menschen stellte es sich so dar, daß er nicht wirklich tot und nicht wirklich lebendig gewesen war. Er war ihnen eher das Sinnbild eines Strafgerichts, das über ihren Häuptern hingezogen war. Eigentlich war er mit aller Gedanken eng verknüpft: die Träume vom Schicksal des verschwundenen Schiffes waren in seinem fremdartigen Aussehen verkörpert, das in fernen Märchenlanden beheimatet war. Die wallenden Falten seines Mantels mahnten an die Meerestiefen, in denen die Vermißten vielleicht den ewigen Schlummer schliefen. Sein Name Andreas und sein plötzliches Auftauchen war eine Verwirklichung ihrer tiefsten Sehnsucht nach der Heimkehr der Verschwundenen. Sein düsteres Schicksal an jenem Abend war der Urteilsspruch über das Fährhaus. Sein Tod verwob sich mit religiösen Vorstellungen von Sühne und Erlösung. So wurde er zu einer Drohung göttlicher Mächte gegen das vermessene Grübeln der Menschen über ihr Schicksal. Die Menschen brauchen nichts von den Ratschlüssen des Ewigen zu verstehen, er hatte Kunde von dem verschwundenen Schiffe gebracht, aber niemand hatte etwas davon erfahren.

      Der Gerichtsbeamte, der die Sache zu untersuchen hatte, wies auf das sonderbare Gemisch von Wirklichkeit und Unwirklichkeit hin, aus dem sie bestand. Sie gab ein Spiegelbild des inneren Lebens der Bevölkerung, das »aus Aberglauben, Träumereien, Feindseligkeit und dumpfer Schicksalsergebenheit« zusammengesetzt war. Die faktischen Dinge waren klar genug: das Geständnis des Fährmanns, die Blutspuren in der Kammer des Fremden und die blutbesudelte Axt, die hinterlassenen Koffer des Fremden. Aber seine Leiche war nicht zu finden. Das wurde in dem Rapport so erklärt, daß die Strömung den Toten aus dem Schilf losgerissen und ihn ins Meer hinausgetrieben hatte.

      Selbst die Erklärung des stämmigen alten Lotsenältesten war auch nur ein