Der eine warf noch über die Schulter Ann-Mari ein Abschiedswort zu: »Ich laß deine Mutter schön grüßen!« Das war in der offenen Tür. Draußen stand das Sternenmeer über den Hausdächern und beleuchtete ihre Gestalten in den derben Kleidern, dann verschwanden sie, nachdem sie die Tore schmetternd ins Schloß geworfen hatten. Ihre Stimmen und ihr zorniges Lachen verhallte allmählich, dieses Lachen, das so kurzatmig und unfroh war, daß es schon bei der nächsten Wegkreuzung in eine Rauferei umschlagen konnte.
Sigvard, der still in der Ofenecke gesessen hatte, war, als er das Abschiedswort des Mannes hörte, jäh aufgesprungen und wollte ihm nacheilen. Doch Ann-Mari umklammerte ihn.
»Aber Sigvard,« rief sie ängstlich, »willst du noch dazu beitragen, alles für uns schlimmer zu machen?«
»Ich hab ganz gut verstanden, wie er es gemeint hat,« rief Sigvard, »warum dürfen sie alle so häßlich gegen dich sein?«
Sie drückte ihn sanft auf die Bank nieder und setzte sich zu ihm:
»Ich hab es auch verstanden,« sagte sie, »aber es macht mir nichts mehr. Als ich noch klein war, hörte ich dieselben oder ähnliche Worte in diesem Ton gesagt. Ich verstand den Sinn nicht, ich empfand es nur als etwas Böses. Später begriff ich es ja, aber da schmerzte es mich lange nicht so sehr wie damals, als ich noch ganz unwissend war.«
Sigvard saß da, die Ellbogen auf die Knie gestützt und starrte in den Kamin.
»Es ist hier nicht mehr auszuhalten«, sagte er. »Ich hab heute wieder mit meinem Vater gesprochen.«
Eine Weile blieb es stumm. Sie fragte nicht. Dann sagte er:
»Wenn wir von hier weggehen, brauchen wir vorläufig die Unterstützung des Alten nicht. Wir können zuwarten, dann werden wir schon sehen. Er ist nicht so hartherzig wie gewisse andere.«
»Ich träume immer davon, mit dir zusammen in die Welt hinauszuziehen«, erwiderte Ann-Mari.
»Aber du fühlst dich hier gebunden?«
»Was soll aus Signe werden?« fragte sie flüsternd.
»Ach, deine Mutter hat ohnehin ihre eigene Welt.«
»Wenn auch ich sie verließe, dann würde sie nicht länger leben wollen, glaube ich. Ich habe von Menschen gehört, denen eine schwere Aufgabe auferlegt ist. Menschen, die nur auf die Welt gekommen sind, um sich für andere zu opfern. Das muß nicht nur eine Aufgabe für große, bedeutende Menschen sein. Gott kann seinen Finger auch auf ein bloßes Kind legen und sagen: Dieses Leben voll Aufopferung sollst du tragen. Glaube nicht, Sigvard, daß ich das nur im Bethaus gehört habe, ich habe es mir selbst ausgedacht. Nachts, wenn ich wach liege, denke ich oft daran – und dann kommt eine Art Ruhe und Zufriedenheit über mich. Ja, denn oft bin ich sehr unruhig, Sigvard, weißt du warum?«
Sigvard machte eine Bewegung nach dem großen, unwirtlichen Raum und sagte niedergeschlagen:
»Du brauchst dich nur umzusehen.«
»Nein, nicht weil es hier so unheimlich ist, sondern weil die Zeit geht. So merkwürdig, ich kann es nicht anders erklären. Wenn ich dasitze und ausrechne, daß jetzt wieder ein Monat vergangen ist – mit Jahren kann ich ja nicht rechnen, ich bin ja so jung, dann wird mir so ängstlich zumute. Ich habe das Gefühl, wieder ein Monat, der mich eingefangen hat. Und wenn dann schließlich die Monate zu Jahren werden, dann ist die vergangene Zeit vielleicht so schwer geworden, daß ich mich gar nicht mehr losreißen kann. Es ist, als wenn ich auf einem Morast stände und immer tiefer einsinken würde.«
Ann-Mari sprach in einer eigenen, etwas umständlichen Weise, wie es ganz junge Menschen tun, wenn sie Dinge behandeln, die sie gern verstehen möchten.
»Wenn auch ich Signe verließe, wie würde es ihr dann ergehen?« fragte sie. »Ich habe versucht, es mir auszudenken. Ob ich dann nicht in meinem Herzen das Gefühl hätte, daß jemand herumgeht und nach mir ruft? Wenn meine Mutter ein Mensch wie alle anderen wäre, dann schon. Wenn ich von ihr wegginge, würde ich sie immer in meinen Gewissensbissen spüren, sie immer hören, wie sie nach mir ruft, sie immer vor mir sehen – wie sie herumgeht und sucht. Sie würde ja nicht anders denken, als daß sie mich finden muß, wenn sie nur immer sucht und sucht.«
»Den Gedanken an ihren furchtbaren Eifer und an ihre Ungeduld«, fuhr Ann-Mari fort, »könnte ich nie abschütteln. Und wenn die Nacht käme, würde mich das Gefühl zur Verzweiflung bringen, daß sie nun wach liegt und im Dunkel auf meine Schritte horcht. All das ist so furchtbar schwer, Sigvard.«
Sigvard sagte:
»Heute war sie mehrmals draußen auf den Schären. Stundenlang ist sie dagestanden und hat vor sich hingestarrt, ihr weißes Kopftuch flatterte im Winde. Ich hörte die Leute über sie reden. ›Seht die Närrische an‹, sagten sie, und dabei lachten sie. Aber sie hatten wohl keinen Grund, gar so übermütig zu sein. Vielleicht stand sie etwas so Mächtigem gegenüber, wie sie es nicht ahnen konnten. Ich vermochte kein Auge von ihr abzuwenden. Es ist schon etwas an dem Glauben, von dem wir hören, daß er Berge versetzen kann. Es war, als ginge etwas von diesem Glauben auch auf mich über. Ich konnte es nicht lassen, ich mußte auch dort hinaussehen – und auf etwas warten ... auf etwas hoffen.«
Sigvard beschrieb mit den Händen einen Bogen durch die Luft, wie er es zu tun pflegte, wenn er seine Träumereien erklären wollte.
»Das ganze Meer war so leer,« sagte er, »nicht der Schatten eines Segels am ganzen Horizont zu entdecken. Aber dennoch hatte ich plötzlich das Gefühl, daß dort draußen eins auftauchen müßte. Ich wartete so angespannt, daß ich mein Herz klopfen hörte. Und all das nur, weil sie dort draußen stand und vor sich hinstarrte. Ihr Glaube ging auf mich über.«
Sigvard war ein bißchen verlegen über seine eigene Feierlichkeit geworden. Er stand auf und legte im Kamin nach. Während er so vorgebeugt dastand und die Glut schürte, fragte er mit einer plötzlichen Veränderung in der Stimme:
»Sollen wir heute abend hinübergehen? Ich habe mein Spielwerk mit.«
Ann-Mari ließ die Frage offen. Sie war durch seine Erzählung erregt, und in einem Ton, als wollte sie ihm ein gefährliches Geheimnis anvertrauen, sagte sie:
»Signe ist hellsichtig. Und manchmal kommt das auch über mich. Heute den ganzen Tag bilde ich mir fest ein, daß etwas Unerwartetes und Seltsames geschehen wird.«
»Was sollte das sein?«
»Ich weiß nicht. Ich kann nichts sehen, aber ich fühle es. Und es kommt immer näher und näher. Vielleicht ist es etwas mit den Alten.«
»Die Alten,« sagte Sigvard gleichgültig, »die sind nur ganz außer Rand und Band über die Sache mit dem Bethaus.«
»Nein, es muß etwas anderes sein. Erinnerst du dich noch an den furchtbaren Abend, als Johannes das Messer gegen die Großmutter zog? Auch da war es mir ganz so zumute. Den ganzen Tag ging ich herum und wartete auf ein Unglück. Jetzt auch. Die Brust schnürt sich mir vor Angst zusammen, und ich möchte mich so gerne verstecken und nur warten, warten. Und dabei ist es mir so furchtbar, daß ich niemandem helfen kann. Ich weiß ja nicht, was es ist. Wenn ich nur einen der Alten ansehe, ist es mir, als ob eine kalte Hand mir nach dem Herzen greifen würde.«
»Sie sehen heute auch wirklich ganz unheimlich aus«, sagte Sigvard. »Johannes fürchtet sich vor Kaisa. Ich habe es heute abend bemerkt, als er die Lampe anzündete und sie danebenstand und zusah. Das Glas klirrte ihm in der Hand. ›Geh weg! Geh weg!‹ rief er. Und wie seltsam sie heute abend im Hause herumwandert. Sie ist überall. Aus allen Schatten kommt sie hervor, ohne daß man ihre Schritte hört. Wo ist sie denn jetzt? Hörst du sie?«
Sie lauschten, aber kein Laut war zu vernehmen. Sie sahen zur Zimmerdecke auf.
»Vorhin war sie dort oben,« sagte Sigvard, »ich möchte wissen, ob der Fremde heimgekommen ist?«
»Nein, noch nicht.«
»Bleibt er lange hier, der Mann?«
»Ich fragte ihn heute. Aber er schüttelte nur den Kopf. ›Ja, du kannst viel fragen,