Sinn, da wird doch kein Unglück geschehen. Wie soll sie denn herunterkommen bei diesem gemeinen Wetter?
Seine Frau Fee empfing ihn mit einem erleichterten Lächeln.
»Gott sei Dank, dass du heil da bist«, sagte sie, »und wie bin ich froh, dass vorgestern nicht solch ein scheußlicher Nebel war, als Katja und David aus London kamen.«
»Da oben kreist eine Maschine«, sagte Daniel Norden gedankenvoll. »Hoffentlich kann man sie an einen anderen Platz weiterleiten.«
»Vorhin sagten sie im Radio, dass die Flughäfen Frankfurt und Nürnberg auch gesperrt seien, und wahrscheinlich sieht es auf anderen Plätzen auch so aus«, sagte Fee. »Schrecklich! Ich möchte nicht wissen, was diese Leute für Angst ausstehen, die in solcher Maschine sitzen. Da kann man schon froh sein, wenn man sich nicht um einen Angehörigen sorgen muss.«
»Es ist einfach abscheulich, dass da aller technischer Fortschritt versagt und man nur auf den Allmächtigen die letzte Hoffnung setzen kann«, sagte Daniel. »Wollen wir hoffen, dass wir nicht eine Schreckensnachricht hören müssen, Liebes.«
Er ahnte nicht, dass in jenem Flugzeug eine Frau saß, die in diesem Augenblick an ihn dachte.
Du hast einmal zu mir gesagt, Daniel Norden, dachte Miriam Perez, solange Leben in einem Menschen ist, darf man die Hoffnung nicht aufgeben.
Sie hielt ihren Arm schützend über Carry. Sie dachte nicht an ihr eigenes Leben. Mit diesem hatte sie doch eigentlich schon abgeschlossen. Mit ihrem Körper wollte sie Carry schützen, die sich nach ihrem Vater sehnte und vor Angst bebte. Carry, die den Fluch der Nonna fürchtete und sich an Miriam klammerte, die doch vor wenigen Stunden noch eine Unbekannte für sie gewesen war. Miriam hatte in wenigen Minuten erfahren, dass Carry sich niemals in die liebevollen Arme einer Mutter hatte flüchten können, Carrys Mutter war kurz nach deren Geburt gestorben. Miriam hielt jetzt dieses junge Geschöpf fest an sich gepresst, ohne noch an sich oder irgendjemand zu denken, der ihr selbst nahegestanden hatte und hatte nur einen Gedanken, dass diese junge Carry ihren Vater wiedersehen müsse, nach dem sie sich sehnte, nach dem sie immer wieder rief. »Papi, Papi, liebster Papi«, ein Kind voller Angst war sie, und doch hörte ihre Stimme nur Miriam, denn in dem Dröhnen der Maschinen und dem Geschrei angstvoller und auch in Hysterie ausbrechender Menschen ging diese zitternde Stimme unter.
Herr, betete Miriam im Stillen, beschütze dieses Kind. Nimm mein Leben für ihres. Mich wird niemand vermissen, und mir kann doch niemand helfen, auch nicht Daniel.
Nein, auch sie wurde sich nicht bewusst, welche Gedanken sie bewegten, als die Maschine nun hart aufsetzte und über die Landebahn holperte. Zusammengekauert hockten sie alle, bis die Maschine zum Stehen kam. So recht begreifen konnte es wohl keiner, dass sie nun aussteigen konnten, zitternd, bleich die meisten, doch manche schon wieder lächelnd, als hätten sie nicht auch gezweifelt und Angst gehabt.
»Na also«, brummte Holger Herwart, »nun kannst du dich mit deiner Fränzi amüsieren, Conny.«
Conny murmelte etwas Unverständliches, aber jetzt mussten auch sie beide zum Ausgang, um den schwankenden Passagieren zu helfen.
Holger warf Wendy nur einen kurzen Blick zu, fing ihr dankbares Lächeln auf und zwinkerte ihr aufmunternd zu.
Eine junge Frau fiel Holger um den Hals und küsste ihn spontan ab. »Danke, tausend Dank«, sagte sie bebend und manche Hand mussten sie drücken, bevor einer nach dem anderen durch die Nebelschwaden auf das Gebäude zuwankte, dessen helle Beleuchtung nun gewiss machte, dass das Ziel erreicht war.
Miriam und Carry gingen zuletzt die Gangway hinab.
»Bleib bei mir, Miriam«, flüsterte Carry. So nahe waren sie sich in wenigen Minuten gekommen, dass ihr das Du ganz leicht von den blassen bebenden Lippen kam.
»Nun wirst du deinen Papi gleich wiedersehen«, sagte Miriam weich.
»Er muss dich kennenlernen. Ich will ihm sagen, wie du mir geholfen hast. Oh, ich danke dir so sehr.«
Gibt es das, fragte sich Miriam. Da saß man Stunden nebeneinander, ohne ein Wort miteinander zu sprechen, und nun war es, als würden sie sich eine Ewigkeit kennen. Aber waren diese Minuten der Angst nicht eine Ewigkeit gewesen? Und hatte sie nicht nur Angst um dieses Mädchen gehabt?
In der Halle fielen sich Menschen in die Arme, manche stumm, manche schluchzend und manche mit erleichtertem Lachen. An sein Gepäck dachte kaum jemand. Und dann war da plötzlich ein großer breitschultriger Mann, der Carry an sich riss und ihr kleines bleiches Gesicht mit zärtlichen Küssen bedeckte.
»Mein Liebes, mein Kleines, Herrgott, ich danke dir, dass ich sie wiederhabe.«
Miriam hörte diese tiefe, erregte Stimme, sie sah den Mann, zu dem ein solcher Gefühlsausbruch gar nicht recht passen wollte. Hätte sie Jonas Henneke unter normalen Verhältnissen kennengelernt, hätte sie ihn als einen harten, nüchternen Mann eingeschätzt.
»Miriam hat mir so geholfen, Papi«, sagte Carry. »Ich wäre vor Angst gestorben, wenn sie nicht bei mir gewesen wäre.«
Graue glasklare Männeraugen blickten nun Miriam an, verwundert und ungläubig war ihr Ausdruck. Es war ein ganz eigenartiger Augenblick, als er geistesabwesend seinen Namen sagte, seltsam auch, dass er Miriam sofort im Gedächtnis blieb, obgleich dies ganz selten der Fall war.
»Ich danke Ihnen«, sagte er mit so ernstem Nachdruck, dass sie von einem unerklärlichen Gefühl erfasst wurde. Er sagte es so, als sei er überzeugt, dass sie Carry tatsächlich das Leben gerettet hatte.
»Der Dank gebührt unserem Piloten«, erwiderte sie stockend.
»Nicht allein«, sagte er leise. »Darf ich Ihren Namen erfahren?«
»Miriam Perez«, entgegnete sie.
»Miriam ist Ärztin«, warf Carry ein, und ihre Stimme klang jetzt schon ein bisschen sicherer. »Bitte, komm mit zu uns, Miriam.«
»Aber das geht doch nicht, Kleines«, sagte Miriam unsicher.
»Sie werden erwartet?«, fragte Jonas Henneke.
Nein, auf sie wartete niemand. Es gab keinen Menschen, der wusste, dass sie sich in dieser Maschine befunden hatte. Wäre diese nicht sicher gelandet …, sie konnte nicht zu Ende denken, denn Jonas sagte: »Ich bitte Sie sehr herzlich, unser Gast zu sein, falls München für Sie nur ein Zwischenaufenthalt sein sollte.«
Ein Zwischenaufenthalt? Guter Gott, dachte Miriam. Sie war am Ende, seelisch und auch finanziell. Es gab hier nur einen Menschen, mit dem sie noch einmal, ein einziges Mal sprechen wollte, Dr. Daniel Norden.
Deshalb hatte sie für diesen Flug ihr letztes Geld geopfert, bis auf ein paar Dollar, die sie noch in ihrer Tasche hatte.
»Sag doch ja, Miriam«, bat Carry. »Wir konnten doch gar nicht richtig miteinander reden. Ich wagte nicht, dich anzusprechen, weil du so in Gedanken versunken warst.« Carry sah ihren Vater an. »Erst, als es mit der Landung nicht klappte und ich so schreckliche Angst bekam, dass wir abstürzen, hat Miriam mich getröstet.«
Was ist das für eine eigenartige Frau, dachte Jonas Henneke, aber nun hatte er sein Kind wieder, sah es lebend vor sich und fand seine Selbstsicherheit zurück.
»Dann werden wir uns jetzt mal um das Gepäck kümmern und im Schneckentempo heimfahren«, sagte er.
»Bitte, Miriam, sag ja«, bat Carry wieder.
»Unser Haus hat viel Platz«, schloss Jonas sich an.
Und ich brauche keine Pension zu suchen, dachte Miriam, der Tatsache bewusst, dass ihr restliches Geld ohnehin gerade für eine Übernachtung reichen würde.
»Sie sind sehr liebenswürdig«, sagte sie leise zu Jonas.
»Du hast mir doch so geholfen«, warf Carry ein. »Mein Herz hat schon fast ausgesetzt. Es ist nämlich nicht in Ordnung«, erklärte sie.
»Sie sind Ärztin«, sagte Jonas Henneke. »Sie spürten es wohl.«
Nein, hätte sie erwidern