»Das ist mir auch lieber«, meinte Carry.
»Mir auch«, sagte Tante Hanne. »Von Ferndiagnosen halte ich schon gar nichts und vor allem nicht, wenn das Honorar schon vorher festgesetzt wird.«
Dafür erntete sie einen vorwurfsvollen Blick von Jonas.
»Ist denn so eine Operation sehr teuer?«, fragte Carry.
»Nicht der Rede wert«, erklärte Jonas rasch. »Ich mag Geld als Gesprächsthema überhaupt nicht. Reich mir doch bitte mal den Schinken, Tante Hanne.«
Miriam kam ihr zuvor. Unabsichtlich berührten sich ihre Hände, und fast war es so, als wolle Jonas Miriams Hand festhalten. Hilfeheischend war sein Blick, und sie wusste ihn zu deuten, denn sie wusste, was eine Operation bei Benten ungefähr kosten würde, wenn er schon selbst eine ausführte.
Ja, sie kannte Benten. Er hatte sich einmal intensiv um sie bemüht, aber sie hatte ihn nicht gemocht, obgleich sie sich jetzt sagen musste, dass er ihr nicht einmal so viel Unglück gebracht hätte wie ein anderer, der jetzt tot war und der auch ihren Tod gewünscht hatte.
»Fahr zur Hölle, Miriam«, tönte es in ihren Ohren, und ohne dass sie es spürte, wich alles Blut aus ihrem Gesicht. Aber da war ja noch die Bräune südlicher Sonne, die dies täuschend verdeckte, und doch hatte sie das Gefühl, dass Jonas es bemerkte.
»Greifen Sie zu, Miriam«, sagte er. »Es scheint so, als hätte nicht nur unsere Carry Untergewicht.«
»Und Miriam ist viel größer als ich«, sagte Carry. »Du bist wahnsinnig schlank. Findest du das nicht auch, Tante Hanne?«
»Viel zu dünn, aber wir werden sie schon aufpäppeln. Was kriegt man da auch schon zu essen, bei den Halbwilden.«
»Na, na, na«, sagte Jonas. »Libanon ist ein reiches Land. Haben Sie unter guten Bedingungen gearbeitet, Miriam?«
»Nein, das könnte ich nicht sagen.« Sie biss schnell in ihr Brötchen, um nicht mehr sagen zu müssen, und wie es schien, verstand Jonas sie auch ohne Worte. Er redete von etwas anderem, nämlich von seinen freien Tagen, die er sich genommen hatte und davon, dass er ihnen da ein bisschen die Umgebung zeigen wollte.
»Wenn es sich aufklärt«, sagte Tante Hanne, »sonst lohnt es sich ja nicht. Bei Nebel sieht alles grau in grau aus, und außerdem ist die Fahrerei gefährlich. Miriam wird sich auch gern mit ihren alten Freunden in Verbindung setzen wollen.«
Miriam warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Ja, das möchte ich gern. Ich bitte um Verständnis dafür.«
»Das ist selbstverständlich«, sagte Jonas.
Jetzt ging es Miriam nicht mehr um sich selbst, sondern viel mehr um Carry, denn sie wusste sehr gut, dass eine solche Operation, der sich Carry unterziehen musste, möglichst im Kindesalter stattfinden sollte, bevor das Wachstum beendet war. So waren die Chancen für eine völlige Gesundung viel größer.
Aber nicht Benten, dachte sie wieder. Nein, er nicht. Es ging nicht allein darum, dass sie an seinem Können zweifelte. Für ihn war das eine Routinesache, die er sicher perfekt vollbringen würde. Aber Carry würde kein Zutrauen zu ihm haben, und sie selbst wollte ihm nicht begegnen. Jetzt schon stand es doch für sie fest, dass sie bei Carry sein wollte, um ihr Mut und Zuversicht zu geben.
Dann verspottete sie sich in Gedanken selbst. Es war fast zehn Jahre her, dass Benten sich für sie interessiert hatte, und sicher hatte er sie längst vergessen. Männer gaben sich keinen Reminiszenzen hin, vor allem dann nicht, wenn sie einen Korb bekommen hatten.
»Ich finde es einfach toll, dass Miriam Dr. Norden kennt«, sagte Tante Hanne in ihre Gedanken hinein. »Er ist so ein Arzt mit einem sagenhaften Können, und außerdem der Sohn von Friedrich Norden, der die Insel der Hoffnung verwirklicht hat.«
»Tatsächlich?«, fragte Miriam. »Daniel sprach damals über die Idee seines Vaters, ein Sanatorium zu gründen, das allen Leidenden offenstehen solle. Insel der Hoffnung«, fuhr sie gedankenvoll fort. »Daniel glaubte nicht so recht daran, dass die Idee zu verwirklichen sei.«
»Waren Sie sehr befreundet?«, fragte Jonas mit einem seltsamen Unterton.
»Wir standen uns gut. Er war sehr umschwärmt«, erwiderte Miriam. »Er sah blendend aus, und alles deutete darauf hin, dass er eine große Karriere machen würde. Er war besessen von seinem Beruf, wie ich auch, doch anscheinend war er erfolgreicher. Es freut mich, denn manch einer vermutete, dass er ein Modearzt werden würde.«
»Warum bist du in dieses ferne Land gegangen, Miriam?«, fragte Carry. »Du bist bestimmt eine gute Ärztin.«
»Geheimnisse nichts in mich hinein, Carry. Ich hatte auch meine Ideen, aber Großes habe ich nicht geleistet.«
Tante Hanne blickte auf. »Dr. Norden ist ein Arzt, der für alle da ist«, sagte sie. »Es scheint, dass Sie das auch wollten, Miriam. Aber Frauen haben es immer schwerer. Die vielgerühmte und heraufgespielte Gleichberechtigung findet noch nicht statt.«
»Zum Kummer von Tante Hanne«, warf Jonas ein.
»Eine Frau bleibt irgendwie doch immer eine Frau«, sagte Miriam nachdenklich.
»Aber manche verstehen es sehr gut, ihre Macht aufgrund von Beziehungen auszuspielen«, sagte Tante Hanne im verächtlichen Ton. »Und gewiss nicht immer zum Besten anderer.«
Auch diesmal wusste Miriam, wen sie meinte, auf wen sie da anspielte. Und Carry sprach es aus.
»Wie Nonna«, sagte sie. »Ich möchte nicht so sein, auch nicht emanzipiert. Ich möchte am liebsten noch mal ein kleines Mädchen sein.«
»Wir werden versuchen nachzuholen, was du vermisst hast, mein Liebes«, sagte Jonas. »Äußere deine Wünsche.«
»Jetzt wünsche ich mir nur, dass Miriam bei uns bleibt«, sagte Carry. »Ich habe es im Flugzeug gefühlt, dass sie mich schützen und für mich sterben wollte.«
Beklemmende Stille herrschte nach diesen Worten. Jonas und Tante Hanne sahen Miriam an.
»Sie hat sich über mich gelegt«, sagte Carry. »Ich spürte, wie ihr Herz schlug. Sie hat mich festgehalten, wie ich mir vorstelle, dass eine Mutter einen festhält. Ja, so habe ich es empfunden, und deshalb konnte mein Herz weiterschlagen. Verstehst du, was ich damit sagen will, Papi?«
»Ja, mein Kind«, erwiderte Jonas.
»Ich habe ganz spontan reagiert«, versuchte Miriam die Bedeutung dieser Worte abzuschwächen.
»Nein, du hast gewusst, wie groß meine Angst war«, sagte Carry. »Ich war dir ganz fremd, aber irgendetwas hat uns ganz nahe gebracht. Ich bin doch kein Kind mehr und mache mir auch meine Gedanken. Ich habe dich lieb, Miriam. Das darf ich doch sagen. Und ich habe gemeint, dass du mich auch lieb hast. War das falsch?«
Wieder herrschte Schweigen. Wieder wanderten die Blicke umher.
»Das gibt es doch«, sagte Carry. »Ich musste immer bei Nonna leben, aber ich habe immer Angst gehabt in ihrer Nähe. Bei Miriam hatte ich keine Angst. Es war genauso, als ob du bei mir wärest, Papi.«
»Carry dachte nur an Sie, Jonas«, sagte Miriam hastig. »Sie hatte Angst, Sie nicht wiederzusehen.«
»Und dann hatte ich Angst, dass du einfach weggehen könntest, zu fremden Menschen, die auf dich warten«, sagte Carry. »Jetzt habe ich überhaupt keine Angst mehr.«
Miriam nahm ihre kleine Hand. »Das ist schön, Carry. Du darfst keine Angst haben. Du musst jetzt nur daran glauben, dass du nach der Operation ganz gesund sein wirst. Du musst es dir immer wieder sagen, Kleines.«
»Du wirst mir alles genau erklären, Miriam?«, fragte das Mädchen. »Wenn du dabei bist, habe ich keine Angst.«
Miriam wagte nicht, Jonas anzusehen. Würde es ihn nicht unangenehm berühren, dass Carry ihr so unendlich viel Zutrauen entgegenbrachte, da er sie doch nun endlich und nach langem Kampf für sich haben wollte?
»Ich werde mich schnellstens mit