Markus Vath

Cooldown


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hatten. Denn rein wirtschaftlich gesehen geschah in der Industrialisierung genau das: eine Verlagerung der Produktion weg von der Muskelkraft (muscle) hin zur maschinellen Produktion in Serie (machine). Handwerkliche, im großen Maßstab wenig zuverlässige, im Kosten-Nutzen-Verhältnis eher teure Produktionsweisen wurden von Fabriken abgelöst, die durch Massenproduktion Dinge von vorhersagbarer Qualität zu einem besseren Kosten-Nutzen-Verhältnis hervorbrachten.

      Betrachten wir den Zeitraum ab ca. 1860, so erkennen wir, dass unter Ärzten und Psychologen schon damals ein »Burnout«-artiger Begriff kursierte. »Neurasthenie« nannte der amerikanische Psychiater George Beard das Phänomen, das er vor allem in Ballungsgebieten wie New York City ausmachte: Schlaflosigkeit, Besorgnis, nervöses Zittern, psychosomatische Beschwerden etc.

       Neurasthenie: Seelenleid der Jahrhundertwende

      Im Grunde etwas Ähnliches wie das, was wir heute unter Burnout verstehen. Beard verfasste über Neurasthenie sogar ein Buch und überschrieb es etwas reißerisch: »American Nervousness«, die »Amerikanische Nervosität«.8 Beard brachte die Neurasthenie in Verbindung mit den schnellen Veränderungen der Moderne: der rasanten technologischen Entwicklung, dem neuen, noch unsicheren Selbstverständnis der amerikanischen Nation, ja sogar mit der aufkeimenden Frauenbewegung. Im Rückblick kann man sagen, dass Beard hier die Erste Transformation sehr treffend beschreibt: das Aufeinanderprallen des menschlichen Geistes mit tiefgreifenden technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen. Die daraus entstehende Unsicherheit griff tief in den menschlichen Organismus ein und sorgte für eine mentale, emotionale und physische Erschütterung. Und sie tut es noch heute in der Dritten Transformation. Die Erste jedoch klang nach der Jahrhundertwende ab und fand im Ersten Weltkrieg ihr abruptes Ende.

      Die Zweite Transformation ließ dann auch etwas auf sich warten – fast 50 Jahre. Zunächst schafften der Erste und Zweite Weltkrieg eine Zäsur von historischem Ausmaß. Besonders der Zweite Weltkrieg sorgte global für eine komplette Neuordnung der Verhältnisse – politisch, kulturell, technologisch:

      

Nachdem der Pulverdampf verraucht war, formierten sich im Kalten Krieg der kapitalistische und der kommunistische Block – eine Zweiteilung der Macht, die ein halbes Jahrhundert Bestand haben sollte. Westeuropa wurde als geografischer Puffer gegen die Sowjetunion benutzt und in die NATO integriert. Die UdSSR antwortete mit dem Warschauer Pakt.

      

Amerika als wirtschaftlich größte Macht des Planeten exportierte seine kulturellen Vorstellungen in alle Welt, von Coca-Cola bis Hollywood. Im zerstörten Europa (vor allem in Deutschland, das fast seine gesamte Intelligenz ins Exil oder in die Vernichtungslager getrieben hatte), stillte man damit ein Bedürfnis, füllte eine wirtschaftliche und kulturelle Leerstelle.

      

Auch auf dem technologischen Sektor dominierten die USA: »The postwar American technological lead had two conceptually distinct components. There was, first of all, the long standing strength in mass production industries that grew out of unique conditions of resource abundance and large market size. There was, second, a lead in ›high technology‹ industries that was new and stemmed from investment in higher education and in research and development, far surpassing the levels of other countries at that time.«9

      Da sich die USA selbst als Supermacht mit kultureller und technologischer Überlegenheit betrachteten, traf sie 1957 der »Sputnik-Schock« hart: Der Sowjetunion war es gelungen, einen Satelliten ins All zu schießen, und sie hatte damit den Wettlauf um die erste erfolgreiche Weltraum-Mission gewonnen. Der Sputnik-Schock markiert gleichzeitig den Eintritt in die Zweite Transformation der westlichen Gesellschaften. Während der nächsten 30 Jahre, bis zum Fall der Berliner Mauer 1989, erlebte die ökonomische Welt ihren zweiten wichtigen Wandel: von einer reinen Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, von der Maschine (machine) zum Geist (mind). Natürlich waren kluge Köpfe auch vor der Zweiten Transformation wichtig. Neu war das massenhafte Auftauchen neuer Berufszweige, die den direkten Kontakt Mensch zu Mensch erforderten. Es wurden immer mehr Arbeitsplätze für Büro-Angestellte, Service-Kräfte oder im Gesundheitsbereich geschaffen.

      Das war auch nötig, da in der reinen Produktion, dem Stammbereich der Industrialisierung, die Produktivität immer mehr zunahm und Arbeitskraft dort dramatisch verbilligte.

       Der Tertiäre Sektor entstand, weil sich Arbeitskraft verbilligte

      Die Arbeitsverlagerung und die Schaffung massenhafter Dienstleistungen nannte man den »Tertiären Sektor«. Betrug der Anteil der Beschäftigten in diesem Dritten Sektor 1960 (also kurz nach dem Sputnik-Schock) europaweit knapp über 40 Prozent, schnellte dieser Wert bis 1990 (kurz nach dem Mauerfall) auf über 60 Prozent hoch.10 Der Anteil von Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt in Deutschland heute bei rund 70 Prozent – immerhin Platz 18 der weltweiten Rangliste. Spitzenreiter ist Hongkong mit einer Quote von 91 Prozent.11

      1974 schließlich, mitten in dieser Phase der wirtschaftlichen Umwälzung, formulierte der amerikanische Psychologe Herbert Freudenberger erstmals den Begriff »Burnout«. Bereits 2011 schrieb ich hierzu: »In der ersten wissenschaftlichen Publikation zum Thema, der Schrift ›Staff Burn-out‹ von Herbert Freudenberger, war Burnout als psychologisches Phänomen in seinen Grundzügen so gut wie vollendet. Freudenberger verwendet nur drei Fußnoten, in denen er ausschließlich eigene, frühere Werke zitiert. Fast könnte man meinen, Freudenberger habe das Thema ›Burnout‹ bewusst in einen eher gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhang stellen wollen statt in einen psychopathologischen. […] Vielleicht hätte man bereits Mitte der 1970er-Jahre eine Debatte über die gesellschaftlichen Implikationen von Burnout führen sollen. Burnout als Oberbegriff für eine Störung der modernen und postmodernen Gesellschaft, eher ein Sammelbecken an Symptomen und Befindlichkeiten als ein psychopathologisches Syndrom.«12

       Der neue Dienstleistungssektor erfordert vor allem soziale Kompetenz

      Neu an dieser wirtschaftlichen Umwälzung war, dass ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung – nämlich vor allem im Dritten Sektor – weitere Kompetenzen jenseits ihrer fachlichen Qualifikation benötigte: Sozialkompetenz, Empathie, Konfliktfähigkeit. Dinge, die man braucht, wenn man zivilisiert und vor allem zielgerichtet mit anderen Menschen umgehen soll. Damals, zu Zeiten Freudenbergers, wurde die Sicht auf das Phänomen Burnout allerdings durch zwei wichtige Dinge getrübt:

      

Viele Veteranen des Zweiten Weltkriegs litten an »Kriegsdepressionen« – verständlicherweise. Es gab Scharen dieser traumatisierten Soldaten, überall auf der Welt. Leider ähneln sich die Symptome von Kriegsdepression und Burnout, zumindest auf den ersten Blick. Das erschwerte eine genaue Diagnose ungemein. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Burnout erst ab den 1970ern in den Fokus der Forschung trat – als die Kriegsdepression in der Masse der Patienten an Bedeutung verlor.

      

Außerdem wurde eine individuelle Erschöpfung durch den rasanten Aufschwung kollektiv konterkariert. Nach dem Motto »Wie soll jemand an etwas leiden, was der Gesellschaft kollektiv so guttut?« (nämlich an dem schnellen technologischen Fortschritt und der immensen Verbesserung der Lebensverhältnisse) konnte man sich ein Syndrom wie Burnout schlicht nicht vorstellen. Besonders in Deutschland und seinem »Wirtschaftswunder« erschien die Vorstellung, Einzelne könnten an diesem Aufschwung individuell scheitern, abseitig.

      Insgesamt begleitete Burnout als »Beeinträchtigung des Geistes« die Zweite Transformation eher im Stillen. Nachdem in der Ersten Transformation im ausgehenden 19. Jahrhundert das Konzept von Burnout (bzw. Neurasthenie) erstmals formuliert wurde, jedoch noch keine gesellschaftliche Rolle spielte, trat es ab den 1970ern deutlicher hervor. Leider nahm Burnout gleich die »diagnostische Abkürzung« und wurde als individuelles Leiden abgetan. Dass dies nicht mehr funktioniert, zeigt die momentane Explosion