sich in räumlich großen Abständen über unterschiedliche Zeitzonen hinweg. Das wird im großen Stil vielleicht nicht in fünf Jahren passieren, aber in zehn Jahren wahrscheinlich und in 20 Jahren ganz sicher. So sehr diese geballte brain power zu begrüßen ist, schafft sie doch logistisch ganz neue Probleme. Schon jetzt gibt es nicht seltene Fälle von Telefonkonferenzen über Zeitzonen hinweg, bei denen Teilnehmer einschlafen. Doch wo der Biorhythmus die Segel streicht, kann kein kollektiver Innovationsturbo zünden.
Virtuelle Konferenzen ersetzen nicht den zwischenmenschlichen Kontakt
Im Moment funktioniert die virtuelle Zusammenarbeit auf dem Papier reibungsloser als in der Wirklichkeit. Damit dieser Zustand überwunden wird, brauchen wir neue Konzepte der Zusammenarbeit. Konzepte, die die technischen Möglichkeiten ausschöpfen und gleichzeitig einen Kontakt von Mensch zu Mensch zulassen. So könnten punktuelle leibhaftige Treffen einen langfristigen Referenzpunkt in der Zusammenarbeit schaffen. Im Vertrieb weiß man schon heute: Nichts geht über den persönlichen Kontakt. Was in der Firmen-Kunden-Beziehung bereits Standard ist, sollte als Organisationskonzept auch in die Gestaltung der Arbeitsprozesse einfließen. Denn Technik kann Wissen transportieren, Kommunikation bündeln und Prozesse verschlanken. Doch menschliche Wärme, die vibes, das Schaffen von Beziehungen und das Wahrnehmen des Menschen in seinen Facetten ist rein virtuell schwierig. In diesem Zusammenhang dürfte auch die weitere Erforschung von »Spiegelneuronen« interessant werden.20 Die bisherige Forschung legt nahe, dass »bei Handlungen mit emotionaler Färbung ebenfalls Spiegelneuronen beteiligt sind und eine wichtige Rolle in sozial kognitiven Aspekten […] übernehmen.«21 Es stellt sich die Frage, ob in rein virtueller Kommunikation die Funktion der Spiegelneuronen beeinträchtigt ist – was eine emotional und sozial stimmige Kommunikation erschweren würde.
So kommt es beispielsweise in sozialen Netzwerken immer wieder zu Missverständnissen, wenn jemand ironisch wird. Ironie scheint etwas zu sein, was schriftlich schwer zu vermitteln ist. Geübte User benutzen daher manchmal ein sogenanntes irony tag, ein »Ironie-Schild«», das sich an die Programmiersprache HTML anlehnt: <ironie>…</ironie>. Oder sie setzen einen zwinkernden Smiley, ein Emoticon. Denn wenig ist ärgerlicher, als in einer ansonsten störungsfreien Kommunikation plötzlich – vermeidbaren – Ärger und Missfallen korrigieren zu müssen.
Dieses einfache Beispiel zeigt, dass zur kompletten Wahrnehmung eines Menschen durch einen anderen idealerweise der persönliche Kontakt gehört. Und dieser wird umso wichtiger, je mehr man sich untereinander abstimmen muss. Dann sollte man wissen: Wie tickt der andere? Wie hat man bestimmte Dinge, die er oder sie sagt oder tut, einzuschätzen? Und genau diese »Nase« für den anderen wird in einer kommunikationslastigen Arbeitswelt immer wichtiger. Deshalb muss man den Menschen gerade in einer globalisierten Welt Gelegenheit geben, nicht nur über Facebook oder Firmen-Intranet etc. zu kommunizieren, sondern sich auch gelegentlich Auge in Auge gegenüberzustehen. Denn das schafft Verständnis. Verständnis schafft Vertrauen – und nur auf dieser Basis gibt man Information weiter, ist engagiert und übernimmt Verantwortung für die Gruppe und sich selbst. Abgesehen von der Frage, wie wir Zusammenarbeit über Zeit und Raum hinweg organisieren, sollten wir außerdem überprüfen, wie wir mit Information innerhalb der Zusammenarbeit, am Arbeitsplatz und generell in unserem Alltag umgehen. Die Informationsflut als Tatsache unserer Tage ist bereits dargestellt worden. Auch, dass wir darauf mit Konzentrationsschwierigkeiten und einem Gefühl der Belastung reagieren.
Doch wir können der Informationsflut das Bedrohliche nicht nehmen, indem wir lediglich an die Gestaltung der Arbeitsbedingungen, der Prozesse und der technischen Infrastruktur denken. Die Situation wird vielmehr dadurch verschärft, dass wir uns immer noch wie Jäger und Sammler benehmen – auch was die Informationsaufnahme betrifft. Wir haben noch nicht gelernt, Informationen ihrer Bedeutung und Wichtigkeit nach zu filtern und auszusortieren.
Auf der Jagd nach Informationen nehmen wir alles mit – und überfressen uns
Auch nach 50 000 Jahren sind wir immer noch impulsive Jäger und Sammler. Evolutionsgeschichtlich machte das früher durchaus Sinn. Da man nicht wusste, wann man wieder etwas zu essen bekam, hortete man und aß, bis man nicht mehr konnte. Den Rest warf man nicht weg, sondern packte ihn ein und bewahrte ihn auf. Heute haben wir beim Essen das umgekehrte Problem: Essen steht uns in praktisch unbegrenztem Ausmaß zur Verfügung. Damit kommen manche besser, manche schlechter zurecht. Für alle Menschen jedoch gilt beim Essverhalten: nicht mehr Jagen und Sammeln ist angesagt, sondern Auswählen und Liegenlassen. Beim Essen haben wir das bereits verstanden: Millionen Menschen versuchen jedes Frühjahr, mit einer Diät abzuspecken. Für manche hat Essen sogar ganz die Qualität des Genusses verloren, für sie ist Essen zum Feind geworden, den es zu bekämpfen gilt.
Der Unterschied zwischen unserem Ess- und unserem Informationsverhalten ist deutlich. Wo wir uns beim Essen beschränken, weil wir unsere natürlichen Kapazitätsgrenzen kennen (jedenfalls die meisten von uns), kennen wir bei Informationen weder Maß noch Ziel. Wir konsumieren fast alles. Wir zappen durch Fernseh- und Radiokanäle, surfen stundenlang im Netz, telefonieren und simsen, chatten und liken. Die Deutschen verbrachten 2011 durchschnittlich 225 Minuten vor dem Fernseher, 191 Minuten vor dem Radio, 83 Minuten im Internet und 23 Minuten mit ihrer Tageszeitung – pro Tag, wohlgemerkt.22 Das macht also bereits im Privatleben 522 Minuten oder 8,7 Stunden. Auch wenn sich manche Nutzung überlagern dürfte (zum Beispiel Radiohören und im Internet surfen), verbringt das Gehirn des Deutschen fast einen ganzen Arbeitstag (!) damit, Informationen zu verarbeiten. Informationen, die nicht unbedingt zu seinen Arbeitsaufgaben gehören.
Und die kommen ja noch obendrauf: dienstliche Telefonate, das Lesen von Mails, Artikeln und Dokumenten, Meetings, dienstliches Internetsurfen etc. Wie viele Stunden ein arbeitender Mensch nun insgesamt mit Mediennutzung und der entsprechenden Informationsaufnahme verbringt, ist schwer abzuschätzen.
Haben wir eigentlich noch Zeit für Kreativität?
Doch wenn man die Klagen über fehlende Zeit der eigenen Produktivität ernstnimmt – also Zeit, in der man nicht konsumiert, sondern produktiv und kreativ arbeitet –, scheint es nicht übertrieben, von ca. 11 bis 14 Stunden an aktiver Informationsaufnahme auszugehen. Nochmal: pro Tag. Wir widmen dem – bestenfalls konstruktiven – Input zu viel Zeit und dem kreativen oder auch nur administrativem Output zu wenig.
Die Frage der Zukunft lautet deshalb nicht: Wie viel Zeit verbringt man mit Informationsaufnahme und Mediennutzung? Sondern vielmehr: Wann kann man sich der unentwegt prasselnden Informationsflut entziehen? Sich schützen und mental ausruhen? Denn Tatsache ist: Das Gehirn kann sich an Information überfressen. Doch das ist vielen Menschen offensichtlich nicht bewusst.
Unser Gehirn verwendet einen Großteil seiner Kapazität auf interne Verarbeitungsprozesse. Es räumt auf, mistet aus und widmet sich seiner wichtigsten Aufgabe: dem Vergessen. Es ist für uns entscheidend, zu wissen, was gerade wichtig ist und was nicht.
Über mehrere Vergleichs- und Lernstufen hinweg kann das Gehirn dies auch mehr oder weniger zuverlässig leisten – sowohl kurzfristig in akuten Situationen als auch langfristig über ein ganzes Leben hinweg. Für die Verarbeitung von Außenreizen verbleibt nur ein Bruchteil der Hirnkapazität. Diese sollten wir klug nutzen und nicht mit beliebigem Informationskonsum »zumüllen«. Doch genau das tun wir im Alltag zu oft. Auch Information hat eine Qualität: für unsere gerade zu erledigende Aufgabe, für unser Wohlbefinden im Allgemeinen, unser Zusammenleben oder unsere Persönlichkeitsentwicklung.
Geht man von der Notwendigkeit des »Auswählens und Abwehrens« aus, müssen wir Dämme errichten, die uns erlauben, Informationen abzuwehren, zu filtern und zu kanalisieren. Das war für Menschen schon immer keine leichte Aufgabe. Der Drang zum Horten und Sammeln ist evolutionsgeschichtlich einfach sehr stark, prallt jedoch immer häufiger auf die Verheißungen und Möglichkeiten komplexer Technik, die wir noch nicht im Griff haben. Ein Beispiel: Was früher der Zettelkasten für Adressen war, also eine vielleicht chaotische, aber physisch überschaubare Angelegenheit, stellt sich heute als Adressverwaltung eines durchschnittlichen Arbeitnehmers mit den üblichen technischen Möglichkeiten als weitaus komplizierter dar.