die Jahrhunderte gewandelt. Aus der Leibeigenschaft der mittelalterlichen Bauern und dem selbstständigen Handwerker wurde der Fabrikarbeiter der Industrialisierung. Flankiert von Errungenschaften des modernen Staates, zum Beispiel den Bismarck’schen Sozial- und Rentengesetzen, wandelte sich die Form der Arbeit einmal mehr. Das Heer der Angestellten entstand. Der Deutsche wurde Angestellter der Deutschland AG, dem mächtigen Verbund aus Bosch, Siemens oder SAP, der nach dem Zweiten Weltkrieg seine Netze über das Land auswarf und es während der nächsten 40 Jahre zu einem der wirtschaftlich stärksten Länder der Erde machte.
Während der Jahre von 1950 bis 1990 dominierte in Deutschland genau ein Arbeitsverhältnis: die unbefristete Vollzeitstelle. Egal, ob Öffentlicher Dienst oder Privatwirtschaft: Man wurde eingestellt, oft nach Tarif, ausgehandelt von einer starken Gewerkschaft, und blieb lange, manchmal ein ganzes Arbeitsleben, bei einem einzigen Arbeitgeber.
Diese Dauerhaftigkeit kommt dem menschlichen Sicherheitsdenken selbstverständlich entgegen. Warum etwas ändern, sich bewegen, wenn es auch so funktioniert? Das ist nicht einmal störrische Verbohrtheit, sondern ökonomische Klugheit.
Arbeiten in der Deutschland AG: Vollzeit und ein Leben lang
Doch jetzt ändern sich die Zeiten. Das Standardmodell der unbefristeten Vollzeitstelle ist ein Auslaufmodell, ein Relikt des 20. Jahrhunderts. Globalisierung, dynamische Märkte und überschnelle Kommunikation zwingen den Menschen eine Flexibilität auf, die diese oft nicht wollen und die verständlicherweise Widerstand auslöst. Es wäre Aufgabe der Politik, hier nicht zu mauern und die Illusion der unbefristeten Vollzeitstelle aufrechtzuerhalten, sondern die Bürger auf die neue Wirklichkeit vorzubereiten. Doch das geschieht oftmals nicht. Die »neue Unsicherheit« sollte begleitet sein von einer »neuen Ehrlichkeit«, damit wir uns als Gesellschaft darauf vorbereiten können und bestimmte Dinge offen diskutieren, bevor uns die Dritte Transformation mit ihren neuen Anforderungen vollends überrollt.
Der Blogger Sascha Lobo findet dafür ein drastisches Bild: »Der Angestelltenstaat Deutschland hat sein System so eingerichtet, dass es implodieren würde, wenn es zu viele Selbstständige gäbe. So arbeiten die mit der Arbeit befassten Institutionen realitätsunbeeindruckt daran, dass die großen Strukturen bleiben, wie sie sind. Aber vor der Tür steht die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit ist wie eine wütende Elefantenkuh, man kann sie nur eine begrenzte Zeit ignorieren, dann trampelt sie alles nieder. Die Wirklichkeit ist: Die allgemeine Fixierung auf das Normalarbeitsverhältnis war eine Notlösung des 20. Jahrhunderts. Es ging halt offenbar nicht anders, die meisten haben das irgendwie eingesehen und so getan, als käme das nächtliche Zähneknirschen von irgendetwas anderem als ihrem Job. Aber das Normalarbeitsverhältnis war nur ein Waffenstillstand, bei dem Existenzangstminderung und Karriereversprechen eingetauscht wurden für acht Stunden Lebenszeit am Tag.«28
Lobo plädiert für die Notwendigkeit einer neuen Flexibilität in der Arbeitsgesellschaft, nicht schrankenlos oder neoliberal, sondern mit einer breiten gesellschaftlichen Debatte als Grundlage.
Flexibilität kann auch zu neuen Freiheiten führen – vorausgesetzt, es gibt einen gesellschaftlichen Konsens darüber
So sollte man in seinen Augen ein bedingungsloses Grundeinkommen ebenso diskutieren wie ein flexibles Renteneintrittsalter oder die Vereinbarung von Selbstständigkeit mit Festanstellung. Warum zum Beispiel ist es in heutigen Arbeitsverträgen immer noch üblich, dem Angestellten eine selbstständige Nebentätigkeit faktisch zu verbieten? Dass ein Arbeitgeber die volle Arbeitskraft eines Angestellten fordert, ist normal und sein Recht. Oft würde eine Nebentätigkeit jedoch das eigentliche Betätigungsfeld des Angestellten gar nicht berühren. Und warum sollte beispielsweise ein in Teilzeit Beschäftigter die restliche Arbeitszeit nicht nutzen, um anderweitig Geld zu verdienen oder sich selbst zu verwirklichen?
Dass man auf der anderen Seite Flexibilität als Wert überhöhen und damit Schindluder treiben kann, zeigen die USA. Dort ist der Arbeitsmarkt auf maximale Verfügbarkeit und Flexibilität des Arbeitnehmers ausgerichtet, in seiner schlechten Ausprägung als hire and fire bekannt und berüchtigt. Befürworter dieser Taktik führen manchmal an, in den USA verlöre man zwar schnell seinen Job, würde dafür jedoch auch schneller wieder eingestellt als in anderen Ländern mit einem starreren Arbeitsmarkt. Die nackten Zahlen jedoch stützen diese These eher nicht. So war 2011 ein Arbeitsloser in Deutschland im Schnitt knapp 37 Wochen ohne Beschäftigung29, in den USA dagegen über 41 Wochen (2010: 35 Wochen)30. Auch wenn man bedenkt, dass sich die USA momentan in einer wirtschaftlich angespannten Situation befinden, sollten die Beschäftigten in einer derart deregulierten, flexiblen Arbeitswelt doch deutlich schneller einen neuen Job finden als in Ländern wie Deutschland. Daher sollte diese Statistik auch den Befürwortern der reinen Flexibilitätslehre zu denken geben. Auch wenn uns die Wirklichkeit dynamischer Märkte zu mehr Flexibilisierung zwingen mag, reicht es nicht, einfach den Kündigungsschutz zu lockern oder nur von Arbeitnehmern größere Anpassungsbereitschaft und das Akzeptieren von Unsicherheit zu fordern. Die neue Unsicherheit trifft alle – Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Deswegen sollten auch die Lasten fair verteilt sein.
In den letzten 60 Jahren ist der Welthandel um das 30-fache gestiegen
Auch die Arbeitgeber haben das Ausmaß der tektonischen Plattenverschiebung innerhalb der Dritten Transformation noch nicht erfasst. Die unbefristete Vollzeitstelle war als Phänomen des Wirtschaftswunders – ideal für die eher langsamen, unflexiblen Märkte, die bis Ende der 90er-Jahre das Bild beherrschten. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) hat diese Entwicklung 2012 in einem Papier zur Entwicklung des Welthandels skizziert: »In den letzten 60 Jahren ist der Welthandel enorm gewachsen. Das Volumen globaler Warenexporte ist zwischen 1950 und 2008 real nahezu kontinuierlich um mehr als das 30-fache gestiegen […]. 2009 war im Zuge der globalen Finanzkrise ein Ausnahmejahr, die globalen Exporte sanken um 12 Prozent. 2010 konnte dieser Rückgang dann wieder kompensiert werden.«31
Vor allem die Schwellen- und Entwicklungsländer hätten während der letzten 20 Jahre die Märkte durch ihren Export enorm dynamisiert: »Im Zeitraum 1995 – 2010 erreichten die Entwicklungsländer im Durchschnitt ein jährliches reales BIP-Wachstum von 5,5 Prozent, die Industriestaaten lediglich 2,2 Prozent. Der Anteil der Entwicklungsländer am Welt-BIP hat sich damit fast verdoppelt (von 18 auf 34 Prozent).«32 Auf diese Dynamisierung müssen auch etablierte Industrieländer wie Deutschland reagieren. Das Auf und Ab wirtschaftlicher Entwicklung erfolgt nicht nur potenziell immer extremer, sondern auch schneller. Der Wunsch der Wirtschaft nach einer »atmenden« Arbeitsmarktpolitik ist daher durchaus verständlich. Doch das bislang dominante Modell der unbefristeten Vollzeitstelle einfach aufzugeben und die Regulierung und Gestaltung schlicht unter das Dach maximaler Flexibilität zu stellen in der Hoffnung, »der Markt« werde es schon richten, ist fantasielos, naiv und für das soziale Gefüge in Deutschland gefährlich. Denn »die Märkte« regeln grundsätzlich nichts. Menschen innerhalb der Märkte regeln etwas. Und wir sollten uns schleunigst überlegen, wie wir die sozialen Ängste kanalisieren und in moderne Arbeitsformen überführen. Denn ein Zurück zur guten, alten Zeit gibt es nicht mehr.
In die Fußstapfen der unbefristeten Vollzeitstelle treten ab der Jahrhundertwende allmählich neue Arbeitsformen: Befristungen, Selbstständigkeit, Projektarbeit, Mini-Jobs und Zeitarbeit. Bereits 2007 kommt der Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch »Schöne neue Arbeitswelt« zu dem Schluss, dass wir uns, global gesehen, mitten im Sprung von der »ersten Moderne« in die »zweite Moderne« befinden.33 Für Beck ist die erste Moderne gekennzeichnet von Vorhersagbarkeit und Sicherheit innerhalb der politischen, technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts.
Leben in der Zweiten Moderne: So viel Unvorhersehbarkeit war nie
Die zweite Moderne, der fast sein gesamtes Werk gewidmet ist, sei geprägt von immer mehr Risiko und zunehmender Komplexität, die alle Lebensbereiche durchdringe und bis dahin nicht vorhandene Unwägbarkeiten für das Schicksal des Einzelnen mit sich brächte. Beck zeichnet ein relativ düsteres Bild der ökonomischen Entwicklung, das er »Brasilianisierung der Wirtschaft« nennt: mehr Billigjobs, mehr Projektarbeit, weniger Festanstellungen, weniger berechenbare