Risiko wird demnach immer mehr vom Unternehmen weg auf die einzelnen Menschen, die »Produktivkräfte« verlagert.
Wohin die Reise geht, zeigt der Gigant IBM mit seinem Projekt »Liquid«: Künftig werden Projekte nicht mehr automatisch intern vergeben, sondern ausgeschrieben, und der einzelne Projektmitarbeiter muss sich auf der Liquid-Plattform darum erst bewerben, so jedenfalls die Idee. Bernd Bienzeisler vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) stellt ganz richtig fest, »dass hier nicht irgendein Unternehmen mal etwas Neues ausprobiert. IBM gilt seit Jahrzehnten als Vorreiter für neue, kontroverse, aber auch revolutionäre Organisationskonzepte, die nicht nur in den Hochglanzbroschüren des Managements stehen, sondern die tatsächlich praktiziert werden.« Bezüglich der Auswirkungen für die Arbeitnehmer sieht Bienzeisler große Probleme, denn »in letzter Konsequenz bedeutet ›Liquid‹ die Aufkündigung des sozialpartnerschaftlichen Modells der Arbeitsorganisation, welches darauf abzielt, Chancen und Risiken halbwegs gleichmäßig zu verteilen. Wenn die Beschäftigten sich jedoch selbst jedes Mal um Projekte aktiv bewerben müssen, ist dies kaum noch im Sinne einer abhängigen Beschäftigung zu verstehen.«34
Ulrich Beck und Bernd Bienzeisler entwerfen das Bild einer ungewissen Zukunft. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Eine größere Flexibilität in der Gestaltung der eigenen Arbeitsleistung kann auch erfüllend sein und Freiheiten schaffen, die den Begriff auch verdienen. Es tut not, sich auch mit diesen positiven Seiten zu beschäftigen. Bislang geschieht das nämlich viel zu wenig, im Gegenteil. So nähren Mainstream-Medien wie der SPIEGEL oder das ZDF nicht selten kritiklos die Angst vor neuen Arbeitsformen wie der Selbstständigkeit. Das habe ich bereits früher an anderer Stelle kommentiert.35
Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten zwei Dekaden stark verändert
Eine solche Haltung spiegelt das Denken der Wirtschaftswunder-Vollzeitstellen-Vollkasko-Mentalität, die wir schnellstens abschütteln sollten.
Nicht um sie durch neoliberale Religion zu ersetzen, sondern um uns tatsächlich darüber Gedanken zu machen, wie das bei uns in Deutschland denn nun aussehen soll mit den neuen Arbeitsverhältnissen. Denn die sind längst Realität:
So explodierte die Zahl der Leiharbeitnehmer von 2000 bis 2010 von 338 000 auf 824 000 – eine Steigerung um fast 244 Prozent!36
Ebenfalls deutlich angestiegen ist die Zahl der Selbstständigen in freien Berufen: von 2002 bis 2012 um 64 Prozent, von 761 000 auf 1 192 000.37
Ende 2012 waren knapp 4,9 Millionen Menschen ausschließlich geringfügig beschäftigt (»Mini-Jobber«). Dieser Wert ist seit einigen Jahren konstant. Im Klartext: Von den 29,4 Millionen abhängig Beschäftigten in Deutschland verdienen fast 17 Prozent maximal 450 Euro im Monat. (Außen vor bleiben hier die 2,7 Millionen Beschäftigten, die einen Minijob zusätzlich zu ihrer Hauptbeschäftigung ausüben).38
Insgesamt haben wir es also im Moment mit mindestens 6,9 Millionen Menschen zu tun, die abseits des Modells »unbefristete Vollzeitstelle« ihrer Beschäftigung nachgehen: immerhin über 16 Prozent von aktuell (Dezember 2012) 41,6 Millionen Beschäftigten in Deutschland – Tendenz steigend. Für diese Menschen müssen wir in Wirtschaft und Politik Antworten finden. Denn die unbefristete Vollzeitstelle als Arbeitsmodell wird weiter an Bedeutung verlieren.
In der Folge wird sich das unternehmerische Risiko weiter vom Arbeitgeber auf den Arbeitnehmer verlagern. Besonders krass sieht man das am Phänomen Zeitarbeit, aber auch an kleineren Maßnahmen, zum Beispiel der sogenannten »Ausgliederung«: Eine Firma gründet eine Tochtergesellschaft und überführt eigene Mitarbeiter dann in diese Tochtergesellschaft – zu schlechteren Konditionen. So geschehen beispielsweise bei der Telekom 2007 (50 000 Mitarbeiter) oder 2012 mehrfach in der Print- und Medienbranche. Das kann sinnvoll sein, auch um das Überleben des Unternehmens zu gewährleisten. Doch optimal ist das nicht. Wir müssen den Gesellschaftsvertrag zwischen Unternehmen und Arbeitenden generell neu aushandeln, was die gegenseitige Verantwortung betrifft. Mit der Vielfalt von Arbeitsformen steigt auch die Komplexität der Zusammenarbeit zwischen Mitarbeiter und Unternehmen. Mit all ihren Möglichkeiten und Gefahren.
Zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern spielt auch Gerechtigkeit eine Rolle
Hier benötigen wir sinnvolle Impulse aus der Politik, zum Beispiel eine zeitlich befristete Phase der Leiharbeit. So sollte ein Unternehmen meiner Meinung nach keine »Ketten«-Leihverträge mit einem Arbeitnehmer schließen dürfen. Ein Betrieb, der ein- und denselben Mitarbeiter über mehrere Jahre als Leiharbeiter beschäftigt und nicht übernimmt, überschreitet die Fairness-Grenze hin zur Ausbeutung und verletzt den »Gerechtigkeitsvertrag« zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Darunter leidet nicht zuletzt die Loyalität des Mitarbeiters. Jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin geht mit dem Arbeitgeber einen solchen mentalen Gerechtigkeitsvertrag ein. Er hat bestimmte Vorstellungen davon, was er leisten will und kann und wie er dafür behandelt werden will. Dieser Gerechtigkeitsvertrag kann leicht brüchig werden, wenn Arbeitnehmer das Gefühl haben, der Arbeitgeber verstoße gegen dieses Gerechtigkeitsgebot. Daher ist die Mindestanforderung, dass der Arbeitgeber bei einem subjektiven »Verstoß« (zum Beispiel einer Ausgliederung zu schlechteren Konditionen) die Gründe hierfür darlegt und um Verständnis wirbt. Denn lokale und globale Veränderungen am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft schlagen ja nicht nur auf »die Unternehmen« durch, sondern selbstverständlich auch auf die Beschäftigten. Nur wenn wir alle das (ökonomische) Schicksal des Einzelnen im Blick behalten, können Unternehmer und Politiker verantwortungsvoll entscheiden.
Nichts zeigt das besser als die Immobilienkrise in den USA. Dort ging es plötzlich nicht mehr um abstrakte Hypotheken oder »asset backed securities«, sondern um obdachlose Menschen, die ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten und bis an ihr Lebensende auf Schulden sitzenbleiben werden. Natürlich haben diese Menschen ebenso Verantwortung für ihre Situation zu tragen. Sie haben schließlich die Kreditverträge unterschrieben. Doch es ist bezeichnend, dass in den Banken für eine besonders hoffnungslose Variante des Kredits eine eigene Bezeichnung kursierte: NINJA, »no income, no jobs or asset«. So wurden Kreditnehmer bezeichnet, von denen man von vornherein wusste, dass sie keine Arbeit, kein Einkommen oder sonstiges Vermögen hatten: »Durch die US-Politik, dass jeder US-Bürger doch ein eigenes Häuschen haben möge, wurde von den Banken erwartet, eine entsprechende Kreditversorgung zu gewährleisten. Die Banken ließen sich nicht zweimal bitten und boten 100-Prozent-Finanzierungen für Immobilienkäufe an. Bei schlechter Bonität des Kreditnehmers wurden höhere Zinsen vereinbart, um das Risiko auszugleichen. Auch ging die ganze Branche davon aus, dass die Immobilien später gewinnbringend verkauft werden konnten. Die Ninja-Kredite wurden massenhaft unters Volk gebracht, die Verkäufer sahnten dabei reichlich Provisionen ab und wurden dadurch angestachelt, noch mehr Ninja-Kredite zu vergeben – bis irgendwann die Blase platzte.«39 Dass man diesen Menschen dennoch Kredite gab, ist eindeutig die Verantwortung der Finanzindustrie. Aufgrund der ökonomischen, faktisch gegebenen »neuen Unsicherheit« müssen wir in der Debatte deshalb das tun, woran man normalerweise nicht extra erinnern braucht: Wir müssen in menschlichen Maßen denken, nicht in abstrakten Begriffen. Die Konsequenzen bis hinunter zu den einzelnen arbeitenden Menschen sollten durchdacht werden, ohne sie vorher aus ideologischen oder Bequemlichkeitsgründen auszublenden.
Hartz IV und die (unbeabsichtigten) Folgen: soziale Abwertung
Dass dies nicht immer gelingt, zeigen die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre, etwa die Hartz-IV-Gesetze. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war vor allem eins: ein psychologischer Fehler. Auch wenn es Menschen schlecht geht, schöpfen sie Motivation aus dem Vergleich mit anderen Menschen, denen es noch schlechter geht: »Ich habe Schnupfen, aber mein Nachbar hat sich das Bein gebrochen. Er ist noch schlimmer dran.« Dieser Abwärtsvergleich, downward comparison genannt, ist vielleicht moralisch