Worte enthielt: ›Ich habe nur noch einige Augenblicke zu leben, mein Freund, ich möchte Sie sehen, um das Schicksal meines Kindes kennenzulernen, um zu wissen, ob es das Ihrige sein wird, auch um die Schmerzen zu mildern, die Sie eines Tages über meinen Tod empfinden könnten.‹
Dieser Brief machte mich zu Eis erstarren; er enthüllte die geheimen Schmerzen der Vergangenheit, wie er die Geheimnisse der Zukunft in sich schloß. Ich ging zu Fuß fort, ohne auf meinen Wagen zu warten, und durchquerte ganz Paris, von meinen Gewissensbissen getrieben, von der Heftigkeit eines ersten Gefühls überwältigt, das von Dauer wurde, sobald ich mein Opfer sah. Die Sauberkeit, unter der sich das Elend dieser Frau verbarg, malte die Aengste ihres Lebens: sie ersparte mir die Scham darüber, indem sie mir mit edler Zurückhaltung davon sprach, als ich feierlich versprochen hatte, unser Kind zu adoptieren. Diese Frau starb, mein Herr, trotz der Sorge, mit der ich sie überhäufte, trotz aller Hilfsmittel der Wissenschaft, die ich vergebens anrief. Diese Sorge, diese späte Aufopferung dienten nur dazu, ihre letzten Augenblicke weniger bitter zu machen. Sie hatte unaufhörlich gearbeitet, um ihr Kind aufzuziehen und zu ernähren. Das mütterliche Gefühl hatte sie wohl dem Unglück, nicht aber ihrem lebhaftesten Kummer gegenüber: von mir verlassen zu sein, gefühllos gemacht. Hundertmal hatte sie einen Schritt bei mir unternehmen wollen, hundertmal hatte ihr Frauenstolz sie davon zurückgehalten; sie begnügte sich mit Weinen, ohne mich zu verfluchen, indem sie daran dachte, daß von dem für meine Launen von mir mit vollen Händen verausgabtem Golde auf dem Wege der Erinnerung nicht ein Tröpfchen in ihren armen Haushalt flösse, um das Leben einer Mutter und ihres Kindes zu erleichtern. Dies große Unglück war ihr wie die natürliche Strafe ihres Fehltritts vorgekommen. Von einem guten Priester von Saint-Sulpice, dessen nachsichtige Stimme ihr die Ruhe wiedergegeben hatte, unterstützt, war sie dahin gelangt, ihre Tränen unter dem Schutze der Altäre zu trocknen und dort Hoffnungen zu suchen. Die in Strömen von mir in ihr Herz gegossene Bitterkeit hatte sich unmerklich gemildert. Als sie eines Tages ihren Sohn ›Mein Vater‹ sagen hörte, Worte, die sie ihm nicht beigebracht, verzieh sie mir mein Verbrechen. Durch die Tränen und Schmerzen aber, durch die Arbeiten bei Tag und Nacht, hatte sich ihre Gesundheit geschwächt. Zu spät brachte ihr die Religion ihre Tröstungen und den Mut, des Lebens Uebel zu ertragen. Sie war von einem Herzleiden befallen worden, das ihre Aengste und das ewige Warten auf meine Rückkehr – eine ewig wiederkehrende, obwohl immer getäuschte Hoffnung – verursacht hatten. Als sie sich schließlich schlechter fühlte, hatte sie mir von ihrem Sterbelager aus jene wenigen, der Vorwürfe baren und von der Religiosität, aber auch von ihrem Glauben an meine Güte diktierten Worte geschrieben. Sie wußte, sagte sie, daß ich mehr verblendet als verderbt sei; sie ging so weit, sich anzuklagen, ihren Frauenstolz zu weit getrieben zu haben.
›Hätte ich eher geschrieben,‹ sagte sie mir, ›würden wir vielleicht Zeit gehabt haben, unser Kind durch eine Heirat zu legitimieren.‹
Sie wünschte diese Bande nur für ihren Sohn, und würde sie nicht gefordert haben, wenn sie sie durch den Tod nicht schon gelöst gefühlt hätte. Doch es war nicht mehr Zeit, nur noch Stunden hatte sie zu leben. An dem Bette, mein Herr, wo ich den Wert eines liebenden Herzen kennenlernte, änderte ich meine Gefühle für immer. Ich stand in einem Alter, wo die Augen noch Tränen haben. Während der letzten Tage, die dies kostbare Leben noch währte, bezeugten meine Worte, meine Handlungen und meine Seufzer die Reue eines ins Herz getroffenen Mannes. Zu spät erkannte ich die auserlesene Seele wieder, welche die Schwächen der Welt, welche die Seichtheit und der Egoismus der tonangebenden Frauen mich wünschen und suchen gelehrt hatten. Müde, so viele Masken zu sehen, müde, so viele Lügen anzuhören, hatte ich die wahre Liebe gerufen, von der mich erkünstelte Leidenschaften träumen ließen; von mir getötet, bewunderte ich sie dort, ohne sie bei mir zurückbehalten zu können, als sie mir noch so ganz gehörte. Eine vierjährige Erfahrung hatte mir meinen eigenen und wirklichen Charakter geoffenbart. Mein Temperament, die Natur meiner Einbildungskraft, meine religiösen Grundsätze, die weniger zerstört als eingeschlafen waren, meine Gemütsart, mein mißverstandenes Herz, alles in mir drängte mich seit einiger Zeit, mein mondänes Leben durch die Wonnen des Herzens und die Leidenschaft durch die Entzückungen der Familie, die wahrsten von allen, zu ersetzen. Dadurch, daß ich mich solange mit der Leere einer aufreibenden zwecklosen Existenz herumgeschlagen und einem Vergnügen nachgejagt hatte, das stets der Gefühle entbehrte, die es verschönen müssen, ergriffen mich die Bilder des intimen Lebens auf das lebhafteste. So war die Umwälzung, die sich in meinen Sitten vollzog, obwohl sie schnell eintrat, doch dauerhaft. Mein südländischer, durch den Pariser Aufenthalt verfälschter Charakter hatte mich sicherlich so weit gebracht, daß ich durch das Los eines betrogenen Mädchens nicht zum Mitleid gerührt worden wäre; und ich würde über ihre Schmerzen gelacht haben, wenn irgendein Spaßvogel sie mir in lustiger Gesellschaft erzählt hätte. In Frankreich wird die Abscheulichkeit eines Verbrechens stets durch die Feinheit eines Bonmots verwischt; in dieses himmlischen Geschöpfs Gegenwart aber, dem ich nichts vorwerfen konnte, schwiegen alle Spitzfindigkeiten: der Sarg stand da und mein Kind lächelte mich an, ohne zu wissen, daß ich seine Mutter tötete. Diese Frau starb, sie starb glücklich, da sie merkte, daß ich sie lieb hatte, und diese neue Liebe war weder durch Mitleid, noch selbst durch das Band, das uns fest zusammenschloß, hervorgerufen worden. Niemals werde ich die letzten Stunden des Todeskampfes vergessen, wo die wiedereroberte Liebe und die befriedigte Mütterlichkeit die Schmerzen zum Schweigen brachten. Der Ueberfluß, der Luxus, mit dem sie sich nun umgeben sah, die Freude an ihrem Sohne, der in den hübschen Kinderkleidern noch schöner wurde, waren die Unterpfänder einer glücklichen Zukunft für dies kleine Wesen, in dem sie sich Wiederaufleben sah. Der Vikar von Saint-Sulpice, der Zeuge meiner Verzweiflung, machte sie noch tiefer, da er mir keinen banalen Trost spendete und mir die Schwere meiner Verpflichtungen klarmachte; aber ich bedurfte keines Antriebes, mein Gewissen sprach laut genug. Ein Weib hatte sich mir edelmütig anvertraut, und ich hatte sie belogen, indem ich ihr sagte, daß ich sie liebe, als ich sie verriet. Einem armen Mädchen hatte ich alle Schmerzen bereitet; nachdem sie die Demütigungen dieser Welt auf sich genommen, mußte sie mir heilig sein; sie starb, indem sie mir verzieh und all ihre Leiden vergaß, weil sie sich, auf eines Mannes Wort verließ, der ihr sein Wort bereits gebrochen hatte. Nachdem Agathe mir ihren Jungmädchenglauben geschenkt, hatte sie in ihrem Herzen noch den Mutterglauben gefunden, um ihn mir zu überlassen. Oh, mein Herr, dieses Kind! ihr Kind! … Gott allein kann wissen, was es für mich bedeutete! Dies liebe kleine Wesen war wie seine Mutter anmutig in seinen Bewegungen, in seinen Worten und seinen Gedanken; für mich aber war es mehr als ein Kind! War es nicht meine Verzeihung, meine Ehre? Es war mir als Vater teuer, ich wollte es noch lieben, wie seine Mutter es geliebt haben würde, und meine Gewissensbisse in Glück verwandeln, wenn es mir gelänge, ihm den Glauben einzuflößen, daß es nicht aufgehört habe, am Mutterbusen zu ruhen; so hing ich an ihm mit allen menschlichen Banden und mit allen religiösen Hoffnungen. Mein Herz hat also alle Zärtlichkeit besessen, die Gott in ein Mutterherz legt. Des Kindes Stimme machte mich zittern, im Schlafe betrachtete ich es mit einer immer neu entstehenden Freude, und oft fiel eine Träne auf seine Stirn. Ich hatt' es daran gewöhnt, wenn es aufwachte, an mein Bett zu kommen, um sein Gebet herzusagen. Wie viele süße Gemütswallungen hat mir das einfache Gebet des: Vater Unser in dem frischen und reinen Munde dieses Kindes verschafft! aber auch wie viele schreckliche Aufregungen! Eines Morgens, nachdem es: ›Unser Vater, der du bist im Himmel‹ gesagt hatte, hielt es inne und fragte mich:
›Warum sagt man nicht: unsere Mutter?‹
Dies Wort schmetterte mich nieder. Ich betete meinen Sohn an und hatte in sein Leben bereits mehrere Ursachen des Unglücks gesät… Obwohl die Gesetze die Fehltritte der Jugend anerkannt und sie beinahe geschützt haben, indem sie natürlichen Kindern ungern eine gesetzliche Existenz geben, hat die Welt den Widerwillen der Gesetze durch unüberwindbare Vorurteile bestärkt. Aus dieser Zeit, mein Herr, datieren die ernsthaften Erwägungen, die ich über die Grundlage der Gesellschaft, über ihren Mechanismus, über die Pflichten des Menschen und über die Moral angestellt habe, welche die Bürger beseelen muß. Zu allererst überblickt das Genie jene Bande zwischen den Gefühlen des Menschen und den Schicksalen der Gesellschaft; die Religion flößt den guten Geistern die für das Glück notwendigen Grundsätze ein; Reue allein aber diktiert sie den hitzigen Phantasien: die Reue verschaffte mir Klarheit. Ich lebte nur für ein Kind, und durch dies Kind wurde ich zum Nachdenken über die großen sozialen Fragen veranlaßt. Ich beschloß,