eine einzige Hoffnung, die schwach war wie ein Weidenzweig, an den sich ein Unglücklicher, der ertrinkt, anklammert. Ich wagte zu glauben, daß Évelinas Liebe stärker als die väterlichen Entschlüsse sei, und daß sie die Unbeugsamkeit ihrer Eltern besiegen werde. Ihr Vater konnte ihr die Gründe der Abweisung, die unsere Liebe tötete, verborgen haben, ich wollte, daß sie mein Los in Kenntnis der Sachlage entscheide, ich schrieb ihr. Ach!, mein Herr, unter Tränen und Schmerz, nicht ohne Augenblicke grausamen Zögerns, schrieb ich den einzigen Liebesbrief, den ich jemals geschrieben habe. Heute weiß ich nur noch undeutlich, was mir die Verzweiflung diktierte; zweifelsohne sagte ich meiner Évelina, daß sie, wenn sie wahr und aufrichtig gewesen sei, immer nur mich lieben könne und müsse. Wäre ihr Leben nicht verfehlt, wäre sie nicht dazu verurteilt, ihren künftigen Gatten oder mich zu belügen, würde sie nicht des Weibes Tugenden verraten, wenn sie ihrem verkannten Geliebten dieselbe Aufopferung verweigerte, die sie für ihn aufgewendet haben würde, wenn die in unserem Herzen vollzogene Heirat feierlich begangen worden wäre? und welche Frau würde sich nicht lieber durch die Versprechungen des Herzens als durch die Ketten des Gesetzes gebunden fühlen? Ich rechtfertigte meine Fehler, indem ich mich auf alle Reinheiten der Unschuld berief, ohne etwas zu vergessen, was eine vornehme und edelmütige Seele zu rühren vermochte … Da ich Ihnen alles gestehe, will ich Ihnen die Antwort und meinen letzten Brief holen,« sagte Benassis und ging hinaus und in sein Zimmer hinauf. Er kehrte bald zurück und hielt eine abgenutzte Brieftasche in der Hand, der er nicht ohne tiefe Bewegung ungeordnete Papiere entnahm, die in seinen Händen zitterten.
»Hier ist der verhängnisvolle Brief,« sagte er. »Das Kind, das diese Buchstaben schrieb, wußte nicht, wie wichtig mir das Papier, das seine Gedanken enthält, sein würde … Hier«, fuhr er, einen anderen Brief zeigend, fort, »ist der letzte Schrei, der mir durch meine Leiden abgezwungen wurde, und Sie werden sofort darüber urteilen können. Mein alter Freund überbrachte meinen Bittbrief, händigte ihn im geheimen ein, demütigte seine weißen Haare, indem er Évelina ihn zu lesen und zu beantworten bat, und hier ist, was sie mir schrieb.
›Mein Herr!‹
Mich, der ich unlängst ihr ›Lieber‹ war, ein keuscher Name, der von ihr gebraucht wurde, um eine keusche Liebe auszudrücken, nannte sie: mein Herr! … Die beiden Worte sagten mir alles. Doch hören Sie den Brief:
›Es ist sehr schmerzlich für ein junges Mädchen, an dem Manne, dem ihr Leben anvertraut werden sollte, Unwahrheit zu entdecken; nichtsdestoweniger habe ich Sie entschuldigen müssen, wir sind ja so schwach! Ihr Brief hat mich gerührt, doch schreiben Sie mir nicht mehr, Ihre Schrift verursacht mir Aufregungen, die ich nicht ertragen kann. Wir sind für immer getrennt worden. Die mir von Ihnen angegebenen Gründe haben mich berückt, sie haben das Gefühl erstickt, das sich in meiner Seele gegen Sie erhoben hatte; es war mir ein so lieber Gedanke, Sie rein zu wissen! Sie und ich aber sind vor meinem Vater als zu schwach befunden worden! Ja, mein Herr, ich habe zu Ihren Gunsten zu sprechen gewagt. Um meine Eltern inständig zu bitten, mußte ich die größten Aengste, die mich je erregt hatten, überwinden und meine Lebensgewohnheiten beinahe Lügen strafen. Jetzt gebe ich abermals Ihren Bitten nach und mache mich schuldig, indem ich Ihnen ohne meines Vaters Wissen antworte; meine Mutter aber weiß es; ihre Nachsicht, als sie mich einen Augenblick allein mit Ihnen ließ, hat mir bewiesen, wie sehr sie mich liebt, und mich in meiner Ehrfurcht vor dem Willen meiner Familie bestärkt, die zu verkennen ich auf dem besten Wege war. Auch schreibe ich Ihnen zum ersten und zum letzten Male, mein Herr. Ohne Hintergedanken verzeihe ich Ihnen das Unglück, das Sie in mein Leben gesät haben. Ja, Sie haben recht, eine erste Liebe erlischt nicht. Ich bin kein reines junges Mädchen mehr, ich könnte keine züchtige Gattin sein. Ich weiß also nicht, was mein Los sein wird. Sie sehen, mein Herr, das Jahr, das Sie ausgefüllt haben, wird lange in der Zukunft widerhallen; aber ich klage Sie nicht an … Ich werde immer geliebt sein! Warum haben Sie mir das gesagt? Werden solche Worte eines armen einsamen Mädchens erregte Seele beruhigen? Haben Sie mich nicht schon für mein zukünftiges Leben zugrunde gerichtet, indem Sie mir Erinnerungen mitgaben, die stets wiederkehren werden? Wenn ich jetzt nur Jesus angehören kann, wird er ein zerrissenes Herz annehmen? Doch hat er mir solche Leiden nicht vergebens gesandt, er hat seine Gründe und wollte mich zweifelsohne zu sich rufen, er, der heute meine einzige Zuflucht ist. Es bleibt mir nichts auf dieser Welt, mein Herr. Um Ihren Kummer zu täuschen, steht Ihnen jedes, dem Manne natürliche Streben zu Gebot. Das ist kein Vorwurf, es ist eine Art frommer Trost. Ich glaube, wenn wir in diesem Augenblicke eine verwundende Last tragen, so habe ich den schwereren Teil davon. Der, auf den ich all meine Hoffnung gesetzt habe, und auf den Sie nicht eifersüchtig sein können, hat unser Leben zusammengeknüpft, er wird es nach seinem Willen lösen. Ich habe bemerkt, daß Ihre religiösen Meinungen nicht auf dem lebhaften und reinen Glauben ruhten, der uns unsere Leiden hienieden ertragen hilft. Wenn Gott die Wünsche eines beständigen und heißen Gebetes zu erhören geruht, wird er Ihnen, mein Herr, die Gnade seines Lichtes gewähren. Leben Sie wohl, der Sie mein Führer hätten sein sollen, Sie, den ich ohne mich zu vergehen »mein Lieber« habe nennen können, und für den ich ohne zu erröten noch beten kann. Gott verfüge nach seinem Willen über unsere Tage; er wird Sie als ersten von uns beiden zu sich rufen können; wenn ich aber allein auf der Welt bleiben sollte, dann, mein Herr, vertrauen Sie mir jenes Kind an.‹
Dieser Brief voll edelmütiger Gefühle täuschte meine Hoffnungen,« fuhr Benassis fort. »Darum hörte ich anfangs nur auf meinen Schmerz; später habe ich den Duft verspürt, den das junge Mädchen, indem sie sich selber vergaß, auf die Wunden meiner Seele zu träufeln versuchte. In der Verzweiflung aber schrieb ich ihr etwas hart:
›Mein Fräulein, diese beiden Worte sagen Ihnen, daß ich auf Sie verzichte und Ihnen gehorche! Ein Mann findet noch, ich weiß nicht was für eine schreckliche Süße darin, dem geliebten Wesen zu gehorchen, selbst wenn es ihm befiehlt, es zu verlassen. Sie haben recht und ich verdamme mich selber. Einst habe ich eines jungen Mädchens Aufopferung verkannt, heute muß meine heiße Liebe verkannt werden. Doch glaubte ich nicht, daß die einzige Frau, der ich meine Seele zum Geschenk gemacht hatte, die Vollziehung dieser Rache auf sich nähme. In einem Herzen, das mir so zärtlich und so liebend erschien, würde ich nimmer soviel Härte oder vielleicht Tugend vermutet haben. Eben habe ich die Tiefe meiner Liebe erkannt, sie hat dem unerhörtesten aller Schmerzen widerstanden: der Verachtung, die Sie mir damit bezeigen, daß Sie ohne Bedauern die Bande zerreißen, durch die wir vereint waren. Leben Sie wohl für immer. Ich wahre den demütigen Stolz der Reue und will einen Stand suchen, in welchem ich die Fehler auslöschen kann, denen gegenüber Sie, meine Dolmetscherin im Himmel, mitleidlos gewesen sind. Gott wird vielleicht minder grausam sein als Sie es sind. Meine Leiden, Leiden, die von Ihnen durchdrungen sind, sollen ein verwundetes Herz bestrafen, das immer in der Einsamkeit bluten wird; denn wunden Herzen ziemt Dunkel und Schweigen. Kein anderes Bildnis der Liebe wird sich fürder in meinem Herzen einprägen. Obwohl ich keine Frau bin, habe ich, als ich sagte: »Ich liebe dich!« gleich Ihnen verstanden, daß ich mich für mein Leben verpflichtete. Ja, diese vor »meiner Lieben« Ohren ausgesprochenen Worte sind keine Lüge gewesen; wenn ich anderen Sinnes werden könnte, würde sie recht haben mit Ihrer Verachtung; Sie werden also immer das Idol meiner Einsamkeit sein. Reue und Liebe sind zwei Tugenden, die alle anderen einflößen müssen; so werden Sie trotz der Abgründe, die uns trennen sollen, für immer der Urquell meiner Handlungen sein. Wiewohl Sie mein Herz mit Bitterkeit erfüllt haben, sollen sich keine bitteren Gedanken an Sie darin finden. Würde es nicht vom Uebel sein, meine neuen Werke damit zu beginnen, meine Seele von allem schlechten Gärungsstoffe nicht zu reinigen? Leben Sie denn wohl, Sie, das einzige Herz, das ich auf dieser Welt liebe, und aus dem ich vertrieben worden bin! Niemals wird ein Lebewohl mehr Gefühle noch mehr Zärtlichkeit in sich begriffen haben; führt es nicht eine Seele und ein Herz mit sich fort, die wiederzubeleben in keines Menschen Macht steht? … Leben Sie wohl. Ihnen der Friede, mir alles Unglück!'
Als diese beiden Briefe gelesen worden waren, blickten Genestas und Benassis einander einen Augenblick an, eine Beute trauriger Gedanken, die sie sich nicht mitteilten.
»Nachdem ich diesen letzten Brief abgeschickt hatte, dessen Konzept, wie Sie sehen, aufgehoben wurde, und der für mich heute alle meine, freilich welken Freuden bildet,« fuhr Benassis fort, »überkam mich eine unaussprechliche Mutlosigkeit. Die Bande, die einen Menschen hienieden an die Existenz knüpfen können, fanden sich in dieser keuschen, fortan verlorenen