zweifelsohne schließlich ungeduldig, die mich, als sie mich fast ebenso schüchtern wie ihre Tochter sahen, günstig beurteilten und für einen ihrer Schätzung würdigen Mann hielten. Vater und Mutter vertrauten sich meinem alten Freunde an und sagten ihm die schmeichelhaftesten Dinge über mich: ich sei ihr Adoptivsohn geworden und sie bewunderten vor allem die Moralität meiner Gefühle. Wahrlich, ich war damals wieder jung geworden. In jener frommen und reinen Welt wurde der zweiunddreißigjährige Mann wieder zum glaubensvollen Jüngling. Der Sommer ging zu Ende; wider ihre Gewohnheiten hatten Geschäfte die Familie in Paris zurückgehalten, im September aber war sie frei und konnte nach einer in der Auvergne gelegenen Besitzung reisen. Der Vater bat mich, zwei Monate lang ein altes, tief in den Bergen von Cantal gelegenes Schloß mitzubewohnen. Als mir diese freundschaftliche Einladung zuteil wurde, nahm ich sie nicht sofort an. Mein Zaudern brachte mir den süßesten, den köstlichsten der unwillkürlichen Ausrufe ein, durch die ein bescheidenes junges Mädchen seine Herzensgeheimnisse verraten kann. Évelina … mein Gott!« rief Benassis, der in Nachdenken und Schweigen versank.
»Verzeihen Sie, Rittmeister Bluteau,« fuhr er nach einer langen Pause fort. »Zum ersten Male seit zwölf Jahren spreche ich einen Namen aus, der immer durch meine Gedanken flattert und den mir eine Stimme oft im Schlafe zuruft, Évelina also, da ich sie nun einmal mit Namen genannt habe, hob den Kopf mit einer Bewegung, deren kurze Lebhaftigkeit gegen die angeborene Sanftheit ihrer Bewegungen abstach; sie sah mich ohne Stolz, aber mit einer schmerzlichen Unruhe an, errötete und schlug die Augen nieder. Die Langsamkeit, mit der sie ihre Lider öffnete, verursachte mir, ich weiß nicht was für ein bisher unbekanntes Vergnügen. Ich konnte nur mit stockender Stimme und stotternd antworten. Die Erregung meines Herzens sprach lebhaft zu dem ihrigen, und sie dankte mir mit einem süßen, beinahe feuchten Blicke. Wir hatten uns alles gesagt … Ich folgte der Familie auf ihre Besitzung. Seit dem Tage, wo unsere Herzen sich verstanden, hatten die Dinge um uns herum ein neues Gesicht bekommen; nichts war uns mehr gleichgültig. Obwohl wahre Liebe sich immer gleichbleibt, muß sie von unseren Gedanken Ausdrucksformen leihen und sich so beständig, sich selber ähnlich und unähnlich in jedem Wesen finden, dessen Leidenschaft ein einziges Werk wird, worin ihre Sympathien Ausdruck finden. Der Philosoph und der Dichter kennen darum allein die Tiefe dieser volkstümlich gewordenen Definition der Liebe: ein Egoismus zu zweien. Wir lieben uns selber in dem andern. Wenn der Liebesausdruck aber so verschieden ist, daß jedes Liebespaar nicht seinesgleichen in der Zeitenfolge hat, so gehorcht es nichtsdestoweniger dem nämlichen Modus in seinen Aeußerungen. Daher wenden die jungen Mädchen, selbst das frömmste, das züchtigste von allen, die nämliche Sprache an und unterscheiden sich nur durch die Anmut der Gedanken. Nun sah Évelina dort, wo für eine andere das unschuldige Geständnis ihrer Gefühlswallungen natürlich gewesen wäre, darin ein Zugeständnis an stürmische Gefühle, welche über die gewöhnliche Ruhe ihrer frommen Jugend siegten; der verstohlenste Blick schien ihr gewaltsamerweise von der Liebe abgerungen zu sein. Dieser beständige Widerstreit zwischen ihrem Herzen und ihren Grundsätzen verlieh dem geringsten Erlebnis ihres nach außen hin so ruhigen und doch so tief erregten Lebens einen Charakter von Kraft, der den Uebertriebenheiten junger Mädchen, deren Gebaren durch mondäne Sitten schnell verfälscht wird, sehr überlegen war. Während der Reise fand Évelina in der Natur Schönheiten, über die sie mit Bewunderung sprach. Wenn wir nicht das Recht zu haben glauben, dem durch des geliebten Wesens Gegenwart verursachten Glücke Ausdruck zu geben, übertragen wir die Empfindungen, von denen unser Herz überfließt, auf äußere Gegenstände, die unsere verborgenen Gefühle verschönen. Die Poesie der Landschaften, die an unseren Augen vorüberflogen, war für uns beide ein wohlverstandener Dolmetscher, und das Lob, welches wir ihnen spendeten, enthielt für unsere Seelen die Geheimnisse unserer Liebe. Zu wiederholten Malen machte es Évelinas Mutter Spaß, ihre Tochter durch einige weibliche Bosheiten in Verlegenheit zu setzen:
›Zwanzigmal bist du durch das Tal hier gekommen, mein liebes Kind, ohne es anscheinend zu bewundern!‹ sagte sie nach einer etwas zu warmen Aeußerung Évelinas.
›Offenbar hatte ich noch nicht das Alter erreicht, Mutter, in dem man diese Art Schönheiten zu schätzen weiß.‹
Verzeihen Sie mir diese Einzelheit, die für Sie des Reizes entbehrt, Rittmeister; aber diese so einfache Antwort bereitete mir unaussprechliche Freuden, die ich alle aus dem Blicke schöpfte, der mich traf. So diente ein von der aufgehenden Sonne erleuchtetes Dorf, eine efeuumsponnene Ruine, die wir gemeinsam betrachtet hatten, dazu, in unsere Gemüter durch die Erinnerung an etwas Materielles in erhöhtem Maße süße Wallungen zu gießen, bei denen es sich um unsere ganze Zukunft handelte. Wir langten in dem Erbschlosse an, wo ich etwa vierzig Tage blieb. Diese Zeit, mein Herr, ist der einzige Anteil vollkommenen Glücks gewesen, den der Himmel mir gewährt hat. Ich kostete den Stadtbewohnern unbekannte Genüsse aus. Es war das ganze Glück, das zwei Liebende empfinden, zusammen unter demselben Dache zu leben, einen Vorgeschmack des Verheiratetseins zu haben, gemeinsam durch die Felder zu gehen, manchmal allein sein zu können, sich unter einen Baum in einem hübschen kleinen Talgrunde zu setzen, dort die Gebäude einer alten Mühle zu betrachten, sich einige vertrauliche Mitteilungen bei jenen kleinen Plaudereien zu entlocken, durch die man täglich im Herzen des andern ein bißchen mehr Fuß faßt. Ach, mein Herr, das Leben in freier Luft, die Schönheiten des Himmels und der Erde stimmen so gut zu der Vollkommenheit und den Wonnen der Seele! Sich beim Betrachten des Himmels zulächeln, unter dem feuchten Laubwerk harmlose Worte in die Gesänge der Vögel mischen, langsamen Schrittes beim Klange der Glocke, die einen zu früh zurückruft, nach Hause gehen, eine Einzelheit der Landschaft gemeinsam bewundern, die Launen eines Insekts verfolgen, eine Goldfliege beobachten, ein zerbrechliches Geschöpf auf der Hand eines geliebten und reinen jungen Mädchens, heißt das nicht, täglich dem Himmel ein wenig näherkommen? Für mich enthalten diese vierzig Tage des Glücks Erinnerungen, die einem ganzen Leben Farbe verleihen, Erinnerungen, die um so schöner und größer sind, als ich seitdem niemals verstanden werden sollte. Heute haben mich jene anscheinend einfachen Bilder, welche für ein gebrochenes Herz aber voller bitterer Bedeutungen sind, an eine entschwundene, doch nicht vergessene Liebe erinnert. Ich weiß nicht, ob Sie die Wirkung der untergehenden Sonne auf der Hütte des kleinen Jacques bemerkt haben? Einen Moment haben die Feuer der Sonne die Natur erstrahlen lassen, dann plötzlich ist die Landschaft düster und schwerer geworden. Diese beiden so verschiedenen Anblicke stellten für mich ein treues Gemälde dieser Periode meiner Geschichte dar. Mein Herr, ich erhielt von ihr den ersten, einzigen und köstlichen Beweis, den ein unschuldiges junges Mädchen erlaubterweise geben darf, und der, je verstohlener er ist, desto mehr verpflichtet: ein süßes Liebesversprechen, eine Erinnerung an die in einer besseren Welt gesprochene Sprache! Nunmehr gewiß, geliebt zu werden, schwur ich, alles zu sagen, kein Geheimnis vor ihr zu haben, und ich schämte mich, es so lange hinausgezögert zu haben, ihr von den Schmerzen, die ich mir geschaffen hatte, zu erzählen. Unglücklicherweise ließ mich am Morgen nach diesem glückseligen Tage ein Brief des Lehrers meines Sohnes für ein Leben zittern, das mir so teuer war. Ich reiste ab, ohne Évelina mein Geheimnis zu sagen, ohne der Familie einen anderen Grund als eine wichtige Angelegenheit anzugeben. In meiner Abwesenheit wurden die Eltern unruhig. Da sie fürchteten, ich könnte irgendein Liebesverhältnis haben, schrieben sie nach Paris, um Erkundigungen über mich einzuziehen. Entgegen ihren religiösen Grundsätzen zweifelten sie an mir, ohne mir die Möglichkeit zu geben, ihren Verdacht zu zerstreuen. Einer ihrer Freunde unterrichtete sie ohne mein Wissen über meine Jugenderlebnisse, vergröberte meine Fehler, und machte sie besonders auf die Existenz meines Kindes aufmerksam, das ich, wie er sagte, absichtlich verborgen halte. Als ich meinen zukünftigen Eltern schrieb, erhielt ich keinerlei Antwort. Sie kehrten nach Paris zurück, ich machte Besuch bei ihnen und wurde nicht empfangen. Beunruhigt, schickte ich meinen alten Freund hin, um die Gründe eines Benehmens zu erfahren, das ich mir nicht erklären konnte. Als er die Ursache erfuhr, opferte der gute Greis sich in edler Weise auf: er übernahm die Verantwortung für mein unverantwortliches Schweigen, wollte mich rechtfertigen und konnte nichts erreichen. Die Gründe des Interesses und der Moral wogen zu schwer für diese Familie, ihre Vorurteile wurzelten zu tief, als daß sie ihren Entschluß hätte ändern können. Ich war in grenzenloser Verzweiflung. Anfangs versuchte ich den Sturm zu beschwören; meine Briefe wurden aber uneröffnet zurückgeschickt. Als alle menschlichen Mittel erschöpft worden waren, als Vater und Mutter dem Alten, dem Urheber meines Unglücks, erklärt hatten, daß sie sich ewig weigern würden, ihre Tochter einem