Relief wurde von einer Säulenplatte überragt, auf der allerlei Unkraut wucherte: gelber Mauerpfeffer, Winde, Gräser, Wegerich – und sogar ein kleiner Kirschbaum. Das Tor aus braunem, stark verwittertem Eichenholz wurde in all seiner Gebrechlichkeit von festen Klammern gehalten, die in gefälliger Gleichmäßigkeit angeordnet waren. In der Mitte der Haustür befand sich ein kleines, enges, verrostetes Gitterfenster, darunter ein an einem Ring befestigter Hammer, mit dem der Einlaßbegehrende einem großen grinsenden Nagel auf den Kopf schlagen mußte. Dieser Hammer von länglicher Form und von der Gestalt, die unsere Vorfahren »jaquemart« nannten, war ein wundervolles Stück; ein Altertumsforscher hätte bei aufmerksamer Betrachtung die typischen Merkmale der Narrengestalt, die er einst darstellte, noch zu erkennen vermocht.
Durch das Gitterfensterchen, das zur Zeit der Bürgerkriege dazu diente, Freund oder Feind erkennen zu lassen, konnte der Neugierige in eine dunkle Vorhalle hineinblicken, an deren hinterem Ende einige ausgetretene Stufen in einen Garten hinaufführten. Dieser wurde von breiten, feuchtfleckigen Mauern, aus denen hier und da Strauchwerk wucherte, malerisch eingefaßt. Die Mauern gehörten zum Stadtwall, auf dessen Höhe sich die Gärten angrenzender Nachbarhäuser ausbreiteten.
Der Hauptraum im Erdgeschoß war der »Saal«, dessen Eingangstür sich in der Halle, nahe am Torbogen, befand. Nur wenige wissen, welche Bedeutung in den Städtchen von Anjou, von Berry oder der Touraine der Saal hat. Er ist sowohl Vorzimmer wie Salon, Arbeitszimmer, Empfangszimmer und Speisezimmer; er ist die Bühne, auf der das häusliche Leben sich abspielt, der Mittelpunkt für alle. Hier war es, wo der Haarschneider zweimal im Jahre Monsieur Grandet die Haare kürzte; hier wurden der Pächter, der Pfarrer, der Unterpräfekt, der Müllerbursch empfangen.
Dieses Gemach, dessen zwei Fenster zur Straße blickten, war gedielt und hatte an den Wänden bis zur Decke hinauf eine graue, reichgeschnitzte Holzverkleidung. Die Decke bestand aus offenliegenden, gleichmäßig grau gestrichenen Balken, und das Fachwerk dazwischen trug einen vom Alter gelb gewordenen Kalkbewurf. Eine alte kupferne Wanduhr mit Arabesken in Schuppenmusterung zierte den steinernen Kaminsims. Über dem Sims erhob sich ein grünliches Spiegelglas, das an den Kanten abgeschrägt war, um seine Dicke sehen zu lassen. Dieser Schliff warf auf einen gegenüberhängenden Pfeilerspiegel aus damasziertem Stahl einen grellen Lichtstreifen. Die beiden Armleuchter aus vergoldetem Kupfer, die je eine Ecke des Simses einnahmen, erfüllten einen doppelten Zweck: hob man die als Lichtdillen dienenden Rosenkelche an ihrem Hauptstengel aus dem Fußgestell heraus, so konnte dieses allein – es war aus bläulichem Marmor mit kupfernen Beschlägen – als Leuchter für den Alltag dienen.
Die altmodisch geformten Sessel hier im Saal wiesen Stickereien auf, die Szenen aus Fabeln Lafontaines darstellten. Aber man mußte die Fabeln gut kennen, um ihren Hergang aus den verblaßten Farben und kaum sichtbaren Gestalten herauslesen zu können.
In den vier Ecken des Saales standen Eckschränke, büffetartige Möbel mit schmutzigen Etageren. Ein alter Spieltisch, dessen Intarsien ein Schachbrett darstellten, stand zwischen den beiden Fenstern. Über dem Tisch hing ein ovales Barometer in schwarzem Rahmen, den schmale Goldstreifen verzierten; diese waren aber seit langem ein so beliebter Tummelplatz der Fliegen, daß kaum noch etwas von der Vergoldung zu sehen war.
An der dem Kamin gegenüberliegenden Wand hingen zwei Gemälde: das Porträt des Großvaters der Madame Grandet, des alten Monsieur de la Bertellière, als Leutnant der Leibgarde, und das Porträt der verstorbenen Madame Gentillet als Schäferin. Die beiden Fenster hatten rote Vorhänge, die von seidenen Schnüren emporgehalten wurden. Dieser kostbare Behang, der so wenig mit der Lebensführung Grandets in Einklang zu bringen war, war seinerzeit beim Kauf des Hauses mit übernommen worden, ebenso der Spiegel, die Wanduhr, die Gobelinstühle und die Eckschränke aus Rosenholz.
In der Nische des der Tür zunächst gelegenen Fensters stand ein Rohrstuhl; man hatte ihn durch untergenagelte Leisten so erhöht, daß Madame Grandet von ihrem Sitz aus die Vorübergehenden mustern konnte. Auch ein Nähtisch aus ausgeblichenem Kirschholz stand dort und daneben der kleine Sessel der Tochter Eugénie.
Seit fünfzehn Jahren hatte sich das Leben von Mutter und Tochter ruhig, in beständiger Arbeit Tag für Tag hier abgespielt im beschaulichen Zählen der Tage vom April bis November. Vom ersten November an konnten sie ihren Winterplatz beim Kamin beziehen. Erst an diesem Tage gestattete Grandet, daß im Saal Feuer gemacht wurde; und pünktlich am 31. März ließ er die Feuerung wieder einstellen, wobei er sich weder um die Frühlingsfröste noch um die Kälteeinbrüche des Herbstes scherte. Ein Fußwärmer, den die Große Nanon mit der Restglut des Küchenfeuers füllen durfte, half Madame und Mademoiselle Grandet über die kältesten Morgen und Abende des April und Oktober hinweg. Mutter und Tochter hielten den ganzen Wäschebestand des Hauses in Ordnung und verwendeten ihre Tage so gewissenhaft auf diese grobe Näherinnenarbeit, daß Eugénie, wenn sie ihrer Mutter ein Krägelchen sticken wollte, die Stunden der Nacht zu Hilfe nehmen mußte. Selbst das Licht zu dieser Nebenarbeit mußte sie sich auf hinterlistige Weise beschaffen, denn der Geizhals teilte sowohl seiner Tochter wie der Großen Nanon ihr Licht zu, so wie er auch jeden Morgen das Brot und den sonstigen täglichen Bedarf an Lebensmitteln zuteilte.
Die Große Nanon war vielleicht der einzige Mensch, der imstande war, den Despotismus ihres Herrn gleichmütig zu ertragen. Die ganze Stadt beneidete Monsieur und Madame Grandet um diesen Dienstboten. Die Große Nanon – so genannt, weil ihre Größe fünf Fuß acht Zoll betrug – war seit fünfunddreißig Jahren im Hause Grandet. Obgleich sie nicht mehr als sechzig Francs Lohn hatte, galt sie als eine der reichsten Dienstmägde in Saumur. Ihre seit fünfunddreißig Jahren alljährlich zurückgelegten sechzig Francs hatten ihr unlängst erlaubt, bei Meister Cruchot viertausend Francs als Leibrentenkapital anzulegen. Der Erfolg der langen, ausdauernden Sparsamkeit der Großen Nanon erschien gigantisch. Jede Magd beneidete die arme Sechzigjährige um ihren gesicherten Lebensabend, ohne an den harten Dienst zu denken, in dem dies Altersbrot erworben worden war.
Im Alter von zweiundzwanzig Jahren hatte das arme Mädchen nirgends eine Stellung finden können, so abstoßend wirkte ihr Äußeres. Und das war wirklich ungerecht: einem Gardegrenadier hätte ihr Gesicht sehr gut angestanden, aber es heißt nun einmal: »Alles an seinem Platz«. Da die Meierei, wo sie als Kuhmagd in Dienst gestanden hatte, das Opfer eines Brandes geworden war, kam sie nach Saumur, wo sie sich mit robustem Mut zu jeglichem Dienst anbot. Das war zur Zeit, als Grandet sich verheiraten wollte und für seinen neuen Hausstand Vorbereitungen traf. Er nahm das Mädchen auf, das von Tür zu Tür gelaufen, aber immer abgewiesen worden war. Als Böttchermeister wußte er Körperkräfte sehr wohl zu schätzen und ahnte, welch großen Nutzen man aus diesem weiblichen Herkules ziehen könne, der so fest auf seinen Füßen stand wie eine sechzigjährige Eiche auf ihren Wurzeln. Diese Nanon war breithüftig, hatte einen viereckigen Rücken, Hände wie ein Karrenschieber und eine leidenschaftliche Redlichkeit und unangefochtene Tugend. Weder die Warzen, die ihr martialisches Gesicht zierten, noch die ziegelrote Haut, weder die nervigen Arme, noch die Lumpen der Nanon schreckten den Böttcher ab, der sich noch in dem Alter befand, in dem das Herz mitfühlend sein kann. Er versorgte also das arme Ding mit Kleidern und Schuhen, gab ihr Nahrung und einen geringen Lohn und ließ sie arbeiten – ohne sie zu überanstrengen. Als sie sich so aufgenommen sah, weinte die Große Nanon im stillen vor Freude und empfand für den Böttcher eine unbegrenzte Anhänglichkeit.
Nanon machte alles: sie kochte, sie besorgte die Wäsche, trug sie auf den Schultern hinunter zur Loire und wieder heim; sie erhob sich bei Tagesgrauen und ging spät zur Ruhe, sie versorgte zur Zeit der Weinlese die Winzer mit Speise und Trank, überwachte die Leute, die die Nachlese hielten, und verteidigte wie ein treuer Hund das Eigentum ihres Herrn. Sie verehrte ihn so blind, daß sie seinen albernsten Launen gehorchte.
Nach dem berühmten Jahre 1811, das ungeheure Anforderungen an die Erntearbeiter stellte, machte Grandet der Nanon, die nun zwanzig Jahre in seinem Dienst stand, seine alte Uhr zum Geschenk – das einzige Geschenk, das sie jemals von ihm erhielt. Allerdings durfte sie seine alten Schuhe auftragen, die für ihre großen Füße gerade passend waren, doch dies Schuhwerk war stets so abgenutzt, daß man eine solche vierteljährliche Zuwendung nicht als Geschenk betrachten konnte.
Die Not hatte das arme Mädchen so geizig gemacht, daß Grandet bald eine gewisse Zuneigung für sie empfand – etwa wie für einen treuen Hund, und Nanon hatte sich von ihm