löste sachte ihre Hände aus den seinen. Er begleitete sie mit der brennenden Kerze zu ihrem Zimmer. Als sie beide auf der Schwelle standen, seufzte er: »Ach, daß ich nun arm bin!« »Bah! mein Vater ist reich, ich bin davon überzeugt«, erwiderte sie. »Armes Kind«, entgegnete Charles und trat einen Schritt ins Zimmer; er lehnte sich an die Mauer. »Da würde er meinen Vater nicht haben sterben lassen, würde Sie nicht ein so armseliges Leben führen lassen und würde selbst anders leben.«
»Aber er besitzt Froidfond.«
»Und was ist Froidfond wert?«
»Ich weiß nicht; aber er hat Noyers.«
»Irgendeine kleine Meierei!«
»Er hat Weingärten und Wiesen . . .«
»Sorgen«, sagte Charles verächtlich. »Wenn Ihr Vater auch nur vierundzwanzigtausend Francs Rente hätte, würden Sie da dies kalte, nackte Zimmer bewohnen?« fügte er, einen Fuß vorsetzend, hinzu. »Da werden also meine Schätze ruhen«, sagte er, auf die alte Truhe zeigend, um seine Gedanken zu verbergen.
»Gehen Sie schlafen«, antwortete sie. Er sollte nicht das unaufgeräumte Zimmer sehen.
Charles trat zurück, und sie sagten einander mit einem Lächeln gute Nacht.
Alle beide schliefen sie mit demselben Traum ein, und Charles begann nun seine Trauer mit Rosen zu schmücken.
Am andern Morgen fand Madame Grandet vor dem Frühstück schon Eugénie in Begleitung Charles' im Garten. Der junge Mann war noch traurig; er hatte die Trauer des Unglücklichen, der in die Tiefen seines Kummers hinabgestiegen ist und der nun in diesem schrecklichen Abgrund die ganze Schwere seines zukünftigen Lebens auf sich lasten fühlt.
»Der Vater wird nicht vor dem Mittagessen heimkommen«, sagte Eugénie, als sie die Unruhe im Antlitz der Mutter sah.
Es war leicht, in Eugénies Benehmen, auf ihrem Gesicht und in der sanften Melancholie ihrer Stimme zu gewahren, daß zwischen ihr und dem Cousin eine tiefe Seelengemeinschaft bestand. Ihre Seelen hatten sich flammend vereint, wohl noch ehe sie wirklich die Kraft des Gefühls erprobt hatten, das sie so eins ans andere band.
Charles blieb nun im Saal, und man achtete seine Trauer und störte ihn nicht. Jede der drei Frauen hatte ihre Beschäftigung. Da Grandet heute seine Geschäfte vernachlässigte, kamen allerlei Leute ins Haus, die nach ihm fragten: der Dachdecker, der Zinngießer, der Maurer, die Erdarbeiter, der Zimmermann, ferner die Gutspächter und Meier, die einen, um Aufträge entgegenzunehmen, die andern, um Miete zu bezahlen oder Gehälter zu empfangen. Madame Grandet und Eugénie mußten also fortwährend hin und her laufen und auf die Fragen der Arbeiter und Landleute antworten. Nanon nahm die Abgaben an Lebensmitteln in Empfang und verwahrte sie in der Küche. Sie wartete stets die bezüglichen Anordnungen ihres Herrn ab, um zu wissen, was für den Hausgebrauch behalten und was auf dem Markt verkauft werden sollte. Es war nämlich des Biedermanns Gewohnheit – und es gibt viele Landedelleute, die es nicht anders machen –, nur seinen schlechten Wein zu trinken und nur seine faulen Früchte zu essen.
Gegen fünf Uhr abends kam Grandet von Angers zurück, wohin er an vierzehntausend Francs in Gold gebracht hatte und von wo er nun eine Brieftasche voll guter Staatspapiere heimbrachte, die ihm bis zu dem Tage, da er seine Rentenpapiere zu bezahlen haben würde, Zinsen trugen. Er hatte Cornoiller in Angers zurückgelassen, um die ganz ermatteten Pferde zu schonen; sie sollten zunächst Ruhe haben und dann langsam nach Haus geführt werden.
›Ich komme von Angers, Frau‹, sagte er. ›Ich habe Hunger.‹
Nanon rief ihm aus der Küche zu: ›Heißt das, daß Sie seit gestern nichts gegessen haben?‹
›Nichts‹, erwiderte der Biedermann.
Nanon brachte die Suppe. Als die Familie sich soeben zu Tisch gesetzt hatte, kam des Grassins, um die Befehle seines Klienten entgegenzunehmen. Seinen Neffen hatte Grandet noch gar nicht gesehen.
›Essen Sie nur ruhig, Grandet‹, sagte der Bankier. ›Wir können plaudern. Wissen Sie, was jetzt das Gold in Angers wert ist? Man will dort welches für Nantes aufkaufen. Ich werde das meinige hinschicken.‹
›Schicken Sie es lieber nicht‹, entgegnete der Biedermann, ›es ist schon genug vorhanden. Wir sind zu gute Freunde, als daß ich nicht versuchen sollte, Ihnen diesen Zeitverlust zu ersparen.‹
›Aber das Gold hat jetzt dort einen Wert von dreizehn Francs fünfzig Centimes.‹
›Sagen Sie, es hatte den Wert . . .‹
›Wo zum Teufel sollten sie denn etwas herbekommen haben?‹
›Ich bin heute nacht in Angers gewesen‹, erwiderte ihm Grandet mit leiser Stimme.
Der Bankier zuckte zusammen vor Überraschung. Dann entspann sich zwischen ihnen eine ins Ohr geflüsterte Unterredung, während der sowohl des Grassins wie Grandet mehrmals zu Charles hinübersahen. Des Grassins zuckte abermals zusammen, und das war gewiß in dem Augenblick, als der frühere Böttchermeister ihm den Auftrag gab, ihm für hunderttausend Francs Rentenpapiere zu kaufen.
»Monsieur Grandet«, wandte der Bankier sich an Charles, »ich reise nach Paris; und falls Sie irgendeinen Auftrag für mich hätten . . .«
»Keinen; ich danke Ihnen, Monsieur«, erwiderte Charles.
»Danken Sie dem Monsieur nur etwas herzhafter, lieber Neffe. Er reist, um die Angelegenheiten des Hauses Guillaume Grandet in Ordnung zu bringen.«
»Ist denn dafür noch etwas zu hoffen?« fragte Charles.
»Aber«, rief da der Böttcher mit gutgespieltem Stolz, »sind Sie denn nicht mein Neffe? Ihre Ehre ist die unsere. Heißen Sie denn nicht auch Grandet?«
Charles erhob sich, umarmte Vater Grandet, küßte ihn, erbleichte und ging hinaus. Eugénie betrachtete ihren Vater bewundernd.
»Also fort, mein lieber des Grassins, leben Sie wohl, alles Gute, und machen Sie die Leute nur hübsch mürbe!«
Die beiden Diplomaten drückten einander die Hände; der frühere Böttcher führte den Bankier bis ans Haustor. Nachdem er dieses wieder geschlossen hatte, kam er zurück, warf sich in seinen Lehnstuhl und sagte zu Nanon: »Gib mir ein Glas Johannisbeerlikör.«
Aber er hatte keine Ruhe im Lehnstuhl; er erhob sich wieder, betrachtete das Porträt von Monsieur de la Bertellière und begann seinen ›vergnügten Tanzschritt‹ wie Nanon es nannte, und sang dazu:
»In der französischen Garde
Da stand mein guter Papa . . .«
Nanon, Madame Grandet und Eugénie sahen einander schweigend an. Es erschreckte sie immer, wenn der Weinbauer seiner Freude so lärmenden Ausdruck gab.
An diesem Abend ging man bald auseinander. Vater Grandet wollte sich frühzeitig zur Ruhe legen, und wenn er schlafen ging, so mußte das ganze Haus ein gleiches tun – gerade wie ganz Polen berauscht war, wenn August trank. Übrigens waren Nanon, Charles und Eugénie kaum weniger müde als Monsieur Grandet. Was Madame Grandet anbetraf, so schlief, aß, trank und lief sie ganz nach Wunsch ihres Gemahls. Immerhin wurden noch zwei Stunden der Verdauung gewidmet, und Grandet, der lustiger war als je, machte eine ganze Reihe seiner eigenartigen sinnvollen Bemerkungen, deren eine schon genügt haben würde, seine Geistesart kundzutun. Als er seinen Johannisbeerlikör geschluckt hatte, betrachtete er das Glas. »Kaum hat man ein Glas an die Lippen gebracht, so ist es schon leer! Da haben wir unser Los. Man kann nicht gleichzeitig sein und nicht sein. Die Taler können nicht rollen und zugleich in unserer Börse stecken, sonst wäre das Leben allzu schön.«
Er war aufgeräumt und gnädig. Als Nanon mit ihrem Spinnrad kam, sagte er: »Du wirst müde sein. Laß deinen Hanf.«
»Schön, schön! . . . Aber stillsitzen ist gräßlich«, antwortete die alte Magd.
»Arme Nanon! Willst du ein Gläschen Likör?«
»Oh! da sage ich nicht nein; den macht unsere Frau besser als der Apotheker. Der verkauft einen echten Schundlikör.«
»Er setzt zuviel Zucker zu«,