wahrhaft innigen Gemeinsamkeit. Das Unglück hatte ein festes Band geknüpft zwischen Madame Grandet, Eugénie und Charles; selbst Nanon sympathisierte mit ihnen, ohne es zu wissen. Was den alten Weinbauer anlangte, so machte ihn seine wieder einmal zufriedengestellte Habgier und die Gewißheit, daß der Zierbengel bald abreisen werde, ohne daß er ihm mehr zu zahlen brauche als seine Reise bis Nantes, fast gleichgültig gegen dessen Anwesenheit im Hause. Er gestattete den beiden Kindern – so nannte er Charles und Eugénie –, sich unter den wachsamen Augen Madame Grandets nach Gefallen zu betragen, denn er setzte in seine Frau in allen Moral- und Glaubensdingen das größte Vertrauen. Die Arbeiten auf seinen Wiesen, das Anlegen der Gräben längs des Wegrandes, die Pappelanpflanzungen am Ufer der Loire und die Winterarbeiten auf dem Felde und in Froidfond nahmen ihn vollständig in Anspruch.
Nun begann für Eugénie ein herrlicher Liebesfrühling. Seit jener nächtlichen Szene, da die Cousine dem Cousin ihren Sparschatz gegeben hatte, war ihr Herz dem Schatz gefolgt. Das Geheimnis hatte die beiden zu Bundesgenossen gemacht; in ihren Blicken lag ein gegenseitiges Einverständnis, das ihre Gefühle füreinander vertiefte, sie immer inniger aneinander band, man könnte fast sagen, sie über das alltägliche Leben hinaushob. Erlaubte ihr Verwandtsein nicht eine gewisse Sanftheit des Wortes, eine Zärtlichkeit der Blicke? Auch trachtete Eugénie, die Leiden, den Kummer ihres Cousins einzuwiegen mit den kindlichen Freuden einer erwachenden Liebesneigung. Wieviel anmutige Ähnlichkeit gibt es doch in den Anfängen der Liebe und denen des Lebens! Wiegt man doch das Kind zur Ruhe mit süßen Liedern und innigen Blicken, erzählt ihm wundervolle Geschichten, die ihm die Zukunft in goldenem Glanze zeigen. Die Hoffnung des Kindes – entfaltet sie nicht immer wieder ihre strahlenden Schwingen? Vergießt das kleine Wesen nicht abwechselnd Tränen der Freude und Tränen des Schmerzes? Streitet es nicht um ein Nichts, um ein paar Kiesel, mit denen es sich einen schwankenden Palast baut, um Blumen, die ebenso schnell vergessen wie gepflückt sind? Ist es nicht voll Gier, die Zeit festzuhalten, voranzukommen im Leben? Die Liebe ist unsere zweite Kindheit. Kindheit und Liebe waren zwischen Eugénie und Charles ein und dasselbe: das war die erste Liebe mit all ihren Kindereien, um so inniger ihren Herzen, als sie voll Schwermut und Trauer war. Im übrigen war diese Liebe, die unter den Schleiern der Trauer nur zögernd und widerstrebend geboren wurde, darum nur um so mehr in Einklang mit der bürgerlichen Schlichtheit dieses altersgrauen Hauses. Wenn Charles im stillen Hof am Brunnen mit seiner Cousine ein paar Worte tauschte, wenn er im Gärtchen mit ihr auf einer Moosbank saß und sie einander große Nichtigkeiten sagten und dem Sonnenuntergang zuschauten, oder in der Ruhe, die hier zwischen den Wällen und dem Hause herrschte, wie in dem Kreuzgang einer Kirche, andächtig schwiegen – dann fühlte und begriff er die Heiligkeit der Liebe; denn seine große Dame, die geliebte Annette, hatte ihm nur ihre Stürme und Verwirrungen gezeigt. In solchen Augenblicken sagte er sich los von der pariserischen, koketten, eitlen und prunkenden Leidenschaft und wandte sich der reinen und wahren Liebe zu. Er liebte sogar dieses Haus, dessen Gewohnheiten ihm nicht mehr so lächerlich schienen. Früh am Morgen schon kam er herunter, um mit Eugénie ein paar Worte zu plaudern, ehe Grandet kam, um die Tagesration auszuteilen; und wenn der Tritt des Biedermanns auf der Treppe ertönte, flüchtete er in den Garten. Das Unerlaubte solcher morgendlichen Begegnungen, von denen selbst Eugénies Mutter nichts wußte und die Nanon zu übersehen schien, gaben dieser unschuldigsten Liebe von der Welt den entzückenden Reiz des Verbotenen.
Wenn dann nach dem Frühstück Vater Grandet fortgegangen war, um nach seinen Besitzungen und Geschäften zu sehen, verweilte Charles bei Mutter und Tochter und genoß die so neue Freude, ihnen bei der Arbeit zuzusehen, ihnen das Garn zu halten und sie plaudern zu hören.
Die Einfachheit ihres fast klösterlichen Daseins enthüllte ihm die reine Schönheit dieser Seelen, die nichts vom lauten Leben wußten, und rührte ihn tief. Er hatte geglaubt, solche Tugenden seien in Frankreich unmöglich, seien überhaupt nur in Deutschland zu finden oder in den Märchen und den Romanen August Lafontaines. Bald erschien ihm Eugénie als der gute Teil von Goethes Gretchen, doch ohne deren Schwächen.
Von Tag zu Tag wurden seine Blicke, seine Worte inniger und entzückten das arme Mädchen, das sich beseligt dem Strom der Liebe überließ; sie griff nach der Glückseligkeit, wie ein Schwimmer den Weidenzweig ergreift, um sich aus dem Wasser zu ziehen und am Ufer zu ruhen. Verdunkelten nicht schon die Kümmernisse einer künftigen Trennung die köstlichsten Stunden dieser enteilenden Tage? Jeder Tag fast brachte ein kleines Geschehnis, das ihnen das bevorstehende Leid ins Gedächtnis prägte.
Drei Tage nach der Abreise des Grassins' wurde Charles von Grandet mit aller Feierlichkeit, die der Provinzler solchen Handlungen gerne verleiht, aufs Gericht geführt, um dort seine Verzichtleistung auf die Erbfolge seines Vaters zu unterzeichnen. O schreckliche Verleugnung! Es war wie ein Abfall von der Familie. Er ging ferner zum Notar Cruchot und ließ dort zwei Vollmachten ausstellen: die eine für des Grassins, die andere für den Freund, den er mit dem Verkauf seiner Einrichtung beauftragt hatte. Dann galt es, die zur Erlangung eines Auslandspasses nötigen Formalitäten zu erfüllen. Und schließlich, als die schlichten Trauerkleider, die Charles in Paris bestellt hatte, eingetroffen waren, ließ er einen Schneider aus Saumur kommen und verkaufte ihm seine überflüssige Garderobe.
Diese Handlung gefiel dem Vater Grandet ganz außerordentlich: »Ah, seht doch! Nun sehen Sie ja wirklich aus wie einer, der ins Ausland geht, um sein Glück zu versuchen«, sagte er zu ihm, als er ihn in einem groben schwarzen Überrock erblickte. »Gut so, sehr gut!«
»Bitte, seien Sie davon überzeugt«, entgegnete Charles, »daß ich über den Ernst meiner Lage völlig im klaren bin.«
»Was ist denn das?« fragte der Biedermann, und seine Blicke belebten sich, als Charles ihm eine Handvoll Goldsachen hinhielt.
»Lieber Onkel, ich habe meine Goldknöpfe, meine Ringe, alles Überflüssige, das ich besaß und das irgendwelchen Wert haben dürfte, zusammengerafft. Da ich aber in Saumur niemanden kenne, wollte ich Sie heute bitten . . .«
»Ihnen das abzukaufen?« fiel ihm Grandet ins Wort.
»Nein, mein Onkel, mir einen ehrlichen Menschen zu nennen, der . . .«
»Geben Sie mir alles her, Neffe; ich werde es Ihnen ganz genau abschätzen und Ihnen auf den Centime genau sagen, wieviel es wert ist. Gold«, sagte er, eine lange Kette betrachtend, »achtzehn bis neunzehn Karat.« Der Biedermann hielt seine breite Hand hin und verschwand mit dem Haufen Gold.
»Meine liebe Cousine«, sagte Charles, »gestatten Sie mir, Ihnen diese zwei Knöpfe anzubieten; wenn Sie sich ein Paar der gegenwärtig so modernen Armbänder aus Seidenband machen würden, so wären die Knöpfe als Abschluß dafür sehr hübsch.«
»Ich nehme Ihre Gabe ohne Zögern an«, erwiderte sie mit einem vielsagenden Blick.
»Liebe Tante, hier ist der Fingerhut meiner Mutter; ich habe ihn stets sorgfältig in meinem Reisenecessaire verwahrt«, sagte Charles, Madame Grandet einen hübschen goldenen Fingerhut anbietend. Sie hatte sich einen solchen schon seit zehn Jahren gewünscht.
»Es gibt keine Worte, Ihnen Dank zu sagen, lieber Neffe«, sagte die alte Mutter, deren Augen sich mit Tränen füllten. »Morgens und abends will ich Sie in mein Gebet einschließen, will für Sie das Gebet für die Reisenden sagen. Wenn ich sterbe, wird Eugénie Ihnen dies Kleinod aufbewahren.«
»Der Wert des Ganzen beträgt neunhundertneunundachtzig Francs fünfundsiebzig Centimes, lieber Neffe«, sagte Grandet wiedereintretend. »Um Ihnen aber die Mühe des Verkaufs zu ersparen, werde ich Ihnen diese Summe in Livres aufzählen.«
Die Bezeichnung ›in Livres‹ bedeutet im Sprachgebrauch des Loiregebiets, daß die Sechslivresstücke als sechs Francs angenommen werden müssen – ohne Abzug.
»Ich wagte nicht, Ihnen das vorzuschlagen«, erwiderte Charles; »aber es widerstrebte mir, meine Schmucksachen in der Stadt zu verhandeln, in der Sie wohnen. Man muß seine schmutzige Wäsche im Hause waschen, sagte Napoleon. Ich danke Ihnen also für Ihre Freundlichkeit.«
Grandet kratzte sich hinterm Ohr, und einen Augenblick herrschte Schweigen.
»Mein lieber Onkel«, begann Charles von neuem und blickte etwas besorgt, als fürchte er, ihn zu verletzten, »meine Tante und meine Cousine haben gern ein kleines Andenken von mir angenommen; wollen