Weltfahrten gekommen: spazieren war er nicht mehr gegangen. Wie hätte er dazu Zeit finden können? – – – – – – – – – – –
Die Stadt, welche die Ehre und das Vergnügen hatte, diesen Geheimrat zu ihren bekanntesten und geschätztesten Mitbürgern zu zählen, gehörte zu denen, welche wie so manche andere im neuen wirklichen Deutschen Reich seit 1866 und 1870 aus ihrer grünen Umkleidung herausgewachsen war wie ein Junge aus seinen Hosen. Sie war »Großstadt« geworden und bildete sich natürlich was drauf ein und klopfte sich dann und wann darob mit Hochgefühl auf Brust und Magen. Auf letzteren etwas seltener in den Tagen, wo die Gemeindesteuern fällig geworden waren und der Steuerbote jeden Augenblick an die Tür klopfen konnte.
Sie hatte ganz in Gärten und Wiesen gelegen, was die grüne Umkleidung anbetraf. Damit war’s nun vorbei; aber einen Kranz von angenehmen grünen, schattigen, blumigen Spazierwegen hatte sie sich doch zwischen dem alten Kern und Weichbild und den neuen Vorstädten erhalten. Ja, wer Zeit dazu hatte, konnte hier immer noch im Baumschatten, durch hübsches, kunstgärtnerisch gepflanztes und gepflegtes Buschwerk, um hübsche Blumenbeete und um Schwanenteiche, die vom mittelalterlichen Stadtgraben und Vaubanscher Befestigungskunde übergespart worden waren, lustwandeln. Es war natürlich hier, wo Geheimrat Feyerabend das Spazierengehen wieder lernen wollte und die ersten Versuche machte, sich endlich einmal wieder in – seiner Umgebung umzusehen. Es gibt immer Leute, die durch Begabung und Beruf zu dem Glauben gebracht werden, sich – der Welt schuldig zu sein. Dass schönste Irrtümer auf diesem Felde am häufigsten sind, dafür können sie nichts. –
Wie gesagt, Geheimrat Feyerabend blieb mit seinen Gehversuchen auf dem »Wall«. Jenseits des bunten, freundlichen Naturgürtels, welcher die Vorstädte von der Altstadt trennt, sollen bereits achtzig- bis neunzigtausend Menschen wohnen, und wer Kunstgeschichte der Neuzeit studieren wollte, brauchte bloß dort durch die breiten, mit »Vorgärten« verzierten Straßen zu wandeln. Da konnte er erfahren, was wir seit des Vitruvius Buch »De Architectura« aus Büchern gelernt haben in der Baukunst und wie wir alles, was wir gelernt haben, zu verwerten wissen! Geheimrat Feyerabend hatte augenblicklich nicht das geringste Interesse dafür; die Gassen waren ihm dort zu breit, zu sonnig und zu staubig, und noch weiter hinaus begann die Öde, die einen wachsenden Mauer- und Menschenhaufen umgibt. Angenehme Bänke, zum Ausruhen für ältere Herrschaften und zur Siesta für Bummler, Arbeitlose, streikende oder ausgesperrte Arbeiter hingestellt, gab es auch nur auf dem »Wall«, aber auf diesen ließ er sich selten nieder, gar nicht auf denen, an welchen ein Täfelchen der »Promenadenverwaltung« kundgab:
Nicht für Kindermädchen!
Seltsamerweise lockten die für solche bestimmten ihn allein an, müde Beine vorzugeben bei diesen seinen Versuchen, sich wieder im Leben außerhalb seiner Wissenschaft wenigstens in etwas zurechtzufinden. Über müde Beine hatte er sich noch nicht zu beklagen: – es waren eben die jungen Dirnen und die Kinder, die ihn anzogen. Seine große Bekanntschaft, die ihn da sitzen sah, schüttelte nur lächelnd den Kopf: »Na, na!«, machte aber sonst nur Anmerkungen wie: »Das sieht ihm wieder ähnlich!«, hielt sich also mäßig bei ihren Betrachtungen, und einige wussten dann und wann genauer als andere, weshalb. –
So schönes Wetter und der Himmel immer noch blau und die Kastanienbäume grün und die Augustsonne, die einmal der jungen Mutter seines Kindes das Herz schwerer gemacht hatte, als es alle Wintermonate, Nachtdunkel, Landregen und Sturm vermocht hätten, auch immer noch dieselbe! Ihn freute der bunte Reif, der ihm zwischen die Beine lief, der Ball, der ihm beinahe den Hut vom Kopfe schlug, und ein stadtbekannter und – weltberühmter Arzt und Wundarzt war er auch und hatte selten seine Künste so gern und willig in Anwendung gebracht wie jetzt hier, einem geritzten Fingerchen, einem blutenden Näschen oder anderem dergleichen Unglück gegenüber. Großmütter, Mütter und Tanten aus den besten Ständen begrüßten ihn häufig auf den Bänken der Kindermädchen, aber seines Bleibens war doch nicht da. Er hatte meistens bald aufzustehen und seines Weges weiterzuwandern, und zwar mit dem Gefühl – zu stören. Zu oft musste er Seitenblicke auffangen, die deutlich besagten: »Ist der Alte schon wieder da? Was will denn der dumme Alte immer hier auf unseren Bänken?« Und sie hatten recht, die jungen Wärterinnen der Kinder anderer Mütter, und – umso mehr recht, je hübscher sie waren. Geheimrat Feyerabend hatte eigentlich hier nichts zu suchen und nahm nur den Platz anderen weg, die besser und willkommner da sitzen konnten. Hinter dem Gitter des nahen Kasernenhofes waren sie ganz der nämlichen Meinung.
Und dann das ewige Grüßenmüssen hier! Dr. Heinrich Fausts Vater, Geheimer Obersanitätsrat und Professor an der Kurfürstlich Sächsischen Landesuniversität Wittenberg, Dr. med. Faust senior, hatte seinerzeit, im sechzehnten Jahrhundert, auf den belebteren Teilen der Promenade das Barett nicht öfter zu ziehen als sein ähnlich betitelter und berühmter Kollege bei seinen Versuchen, das Lustwandeln wieder zu erlernen, den Hut im neunzehnten. Wie Faust junior schlug er sich darob seiner unverdienten Ehren halber in die Büsche und suchte unbetretenere Pfade. Dass ihm da nicht der Teufel in Gestalt eines Pudels begegnen würde, wusste er; aber dass sich ihm hier, grade hier und aus der Blüte der Kultur heraus, die kalte Teufelsfaust entgegenballen würde, hatte er sich auch nicht vermutet. Es war aber so.
Wo er am wenigsten Menschen begegnete, fing er an, nach Bekannten, alten – ältesten Bekannten zu suchen, um sie wieder einmal zu begrüßen, und – er traf auf keinen mehr.
»Ja sehen Sie, Herr Geheimrat (auch die Parkwächter kannten den berühmten Mann), was Sie da suchen, finden Sie, abgesehen von der späten Jahreszeit, jetzt immer hier nicht mehr vor. Ungeziefer gibt es nicht mehr bei uns. Die Zeit, wo man damit seine Last hatte, ist vorbei.«
»Wieso denn?«
»Ja, da sind die jetzigen städtischen Verhältnisse dran schuld, Herr Geheimrat. Und zu jeder Jahreszeit, nicht bloß weil es jetzt in den Herbst geht und ihre Flug- und Brütezeit hin ist. Das ist jetzt so bei uns hier mit die Vögels wie mit die Buttervögels, das Raupenzeug, die Käfers und was sonst so, vorzüglich im Frühjahr und um die Blüte, hier in meine Herrschaft in die Büsche und Blumerei nach des Herrgotts Willen sich zusammentun, aus dem Ei und Kokon kommen, krauchen, fressen und ’rumflurren und sonst sein Wesen und Unwesen haben sollte. Sie können so manches nicht mehr vertragen, was der heutige Mensche doch immer mehr zu seinem täglichen und nächtlichen Wohlsein nötig hat.«