der kurz abgeweideten Grasnarbe? Dort unten, zur Seite am Bach, lag der Stall, unter dessen Tor dieser Wirkliche Geheimrat es zum ersten Mal im Leben erfuhr, wie es bekommt, wenn eine Schafherde über einen wegtrampelt. Es war natürlich sein damaliger bester Freund, Ludchen Bock aus dem Nachbarhause, gewesen, der ihm zu dieser Erfahrung verhalf. Böse meinte der es nicht, der hatte nur seinen Spaß daran. Dass er erzieherisch einwirken wollte, ist gänzlich ausgeschlossen, aber Geheimrat Professor Dr. Feyerabend wusste in der Tat durch ihn, seinen Freund Ludchen, zuerst, dass man sich nie einer nach der Weide hindrängenden Herde, und wenn es auch nur eine Schafherde wäre, in den Weg stellen soll, wenn man nicht von den Füßen gehoben, in den Dreck gelegt und bipedisch wie quadrupedisch übertrampelt werden will. Als unbewussten Pädagogen hatte er ihm überhaupt noch manches zu verdanken. Nicht nur die Häuser und Gärten der Jungen grenzten nachbarlich aneinander, sondern sie waren auch Nachbaren auf der Schulbank beim Rektor und Pastor primarius Schuster.
Bei diesem hatte der Honoratiorensohn Fritze Feyerabend Privatstunden und lernte Latein, was er damals sich, seinem Vater und dem Rektor gern geschenkt hätte. Ludchen Bock lernte es nicht. Dessen Vater war ein begüterter Steinbruchbesitzer und dazu ein Ackermann, und beides sollte auch sein Nachfolger im Erbe werden, und zu beidem brauchte man kein Latein.
Jedenfalls hatte er, Ludchen, als Erzieher einen Vorzug vor dem Rektor: was er lehrte, das wusste er auch; aber ob der alte gute Rektor Schuster wirklich Latein verstand, bezweifelte Fritze Feyerabend zwar nicht, doch war es ihm nunmehr längst zur Gewissheit geworden, dass dem nicht so war.
Jawohl, was Ludchen Bock lehrte, das wusste er. Wie manche tiefgefühlte Lücke in seiner Bildung hatte er dem Schulbank- und Lebensgenossen ausgefüllt, wenn auch nicht aus dem Schulsack. Freilich, Fritzchens Eltern und vorzüglich seine Mutter durften besser nicht von allem wissen, was Ludchen schon verstand und gerne als Nachbar und Freund weitergab.
Wie kam der große Mann seiner Wissenschaft, die Leuchte der Hörsäle rund um den Erdball, durch den Rauch seiner Alterspfeife auf seine Kaninchenzucht mit Ludchen Bock?
Wie kam er überhaupt wieder auf seinen ersten und besten Freund im Leben, auf seinen Freund Ludchen Bock? auf Altershausen und Ludchen Bock? Wann tauchten das alte Nest und der alte Junge nach ungezählten Jahren der Vergessenheit zum ersten Mal wieder in ganzer Frische in seiner Erinnerung auf?
Der neuliche Jubilar rieb sich erst lächelnd, nachher sogar lachend die Stirn: bei seinem Ehrenfestmahl im Königshof sah er Ludwig Bock so deutlich, wie im Königssaal zu Fores Macbeth seinen Freund Banquo, wenn auch nicht mit dem knieschlotternden Schauder des mörderischen Schottenkönigs. Gemordet hatte Fritzchen sein Ludchen nicht, wenn auch oft genug Blut zwischen ihnen geflossen war – glücklicherweise meistens nur aus den Nasen. Wer obenauf gekommen war, hatte mit der einen Faust im Haarbusch des Gegners die andere jedes Mal zu grimmigster Hammerarbeit auf Maul und Riecher des Gegners verwendet, und der nächste Brunnen oder Bach hatte genügt, mit dem Blut die Wut, das Gift, den Neid und – die Gewissensbisse wegzuspülen. An der Festtafel im Königshof war der Freund dem Freunde nur in der Jacke erschienen, die gewöhnlich die Spuren der letzten Balgerei aufwies. Auf der Schulbank des Rektors Schuster war Ludchen Bock neben Fritzchen Feyerabend nicht aus dem Boden aufgestiegen, sondern er hatte sich aus dem Lichterglanz, dem festlichen Gedünst, dem Stimmengewirr und Tafelmusiklärm entwickelt.
Folgendermaßen:
Selbstverständlich trug das siebenzigjährige Geburtstagskind alle seine Orden. Auch der jüngste, letzte legte sich ihm an einem feuerfarbenen Band um den Hals und leuchtete unter den rundum flimmernden und blitzenden wie der Mond unter den niederen Sternen oder gab doch jedenfalls keinem an Glanz was nach. Und Exzellenz, der Kultusminister, hielten die Rede, die Tischrede auf den berühmten Mitbürger und sein segenreiches Erdenwallen und -wirken – so eine Rede, während welcher der Beredete nicht weiß, ob er sich aus Schämigkeit und Bescheidenheit unter der Tafeldecke verkriechen oder mit dem belorbeerten, mehr oder weniger kahlen Schädel, seines Selbstbewusstseins schon von selber voll genug, die Saaldecke durchstoßen muss. Und während dieser Rede, in einer Kunstpause dieser Rede, als aller Augen auf den Gefeierten gerichtet waren, als die Festmusik oben im Jubelbratendunst jedwedes Blasinstrument zum Tusch schon gegen den Mund hob und die Paukenschlegel zum letzten höchsten Losdonnern fester in die Fäuste fasste, ist es gewesen, dass Ludchen Bock plötzlich wieder neben Fritz Feyerabend auf der Schulbank vorm alten Rektor saß, heimtückisch grinsend und zähnefletschend an seiner Schulter schnüffelte und, als ob er dem Rektor zeigen wolle, dass er aus seiner Jacke herausgewachsen und der Ärmel, vom letzten Kampf her, dazu ein Loch am Ellbogen habe, den Zeigefinger »petzend« zum Lehrstuhl aufreckte:
»Herr Rektor, Feyerabend ist unrein!«
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Diese Punkte bedeuten das Erschrecken und Erstarren, das Zusammen-, Auf- und Auseinanderfahren im Festsaal, wenn Exzellenz, auf den Brustkasten des gefeierten Greises deutend, statt: »Auch durch dieses hohe Zeichen Höchstihrer Gnade haben Majestät unserm hochverehrten usw.«, gesagt haben würde: »Meine Herrschaften, mein lieber alter Freund und Whistgenosse Feyerabend hat eine Laus!«
Solches nämlich bedeutete vor dem Katheder des Pastor primarius Rektor Schuster zu Altershausen bei erhobenen, wenn nicht Schwur-, so doch Zeigefinger vor sechzig Jahren der Ruf: »Herr Rektor, Müller – Schulze – Meier – Schmidt – Karl – Willi – Fritze«, oder wie deutsches Volk sonst benamset wird, »ist unrein!« Und die von der höchsten Aristokratie der Planetenstelle bestens erzogenen und reinlichst gehaltenen Honoratiorensöhne und -töchter konnten dergleichen Ruf und Anklage über sich ergehen lassen müssen und aus dem Umgang mit ihren Zeit- und Altersgenossen eine Insektensammlung nach Hause bringen, nach der sie wahrlich nicht so lange vergeblich in den »Büschen« um sich her zu suchen hatten, wie neulich der alte Doktor Feyerabend im Buschwerk seiner Spazierwege nach den Kerbtieren seiner Jugendzeit.
Zu Hause gab es denn selbstverständlich bei den Müttern viel Ekel und ein großes Geschrei, während die Väter unbegreiflicherweise nur lachten und nicht mit dem Rektor über die Schande reden wollten. –
Durch die Sonntagmorgenstille an seinem offenen Fenster, einigen neuen Ringen seines Tabakdampfes nachschauend, vernahm