auf der Fahrt, nicht nach Bimini, sondern nach Altershausen gewesen.
»Jaja, Fräulein, da ist nun wieder mal nichts weiter zu machen. Der Herr Wirkliche Geheime Obermedizinalrat hat immer so seinen eigenen Sinn und Willen gehabt«, meinte Dr. Schillebold auf dem Heimwege. »Wenn einer Gelegenheit hatte, das öfters in Erfahrung zu bringen, so bin ich gottlob das gewesen. Wir müssen eben abwarten, was für uns nun wieder hierbei herauskommen wird.«
»Lieber Freund, ob für eure Wissenschaft hier was abfällt, ist mir ganz einerlei. Dass er sein ganzes Leben durch immer seinen ganz besondern Schutzengel nötig gehabt hat das ist in diesem Augenblick noch mehr als sonst meine Meinung. Nach Altershausen! Bin ich nicht auch aus Altershausen? Ich bin jawohl so jung und kindisch draus wegversetzt, dass ich wenig mehr davon weiß; aber hätte er mich nicht doch fragen können, ob ich ihn nicht auch zur Auffrischung meiner alten Erinnerungen begleiten wolle? Ludchen Bock! Ich bitte Sie, Doktor, seinen Freund Ludchen Bock will er besuchen! Gehört das auch zu Ihrer Wissenschaft? Seit Jahren hat keins von uns zwei Geschwistern an unsere alte Heimat gedacht, und nun auf einmal jetzt in seinem Einundsiebenzigsten dieser – ich will mich milde ausdrücken – dieser Einfall! Jawohl, Schillebold, da bin ich Ihrer Meinung, es bleibt uns nichts übrig, als abzuwarten, was bei ihm herauskommt.« – –
Die Sonne schien bei den vielen Windungen der Bahnlinie bald ins eine Fenster, bald ins andere, und so ließen die Damen der Reisegesellschaft auf beiden Seiten die Gardinen herunter und hüllten, da diese Vorhänge blau waren, sich und den Alten in ein blaues Licht, gegen welches er, da es seinem Reisezweck ganz angemessen war, nichts einzuwenden haben konnte. Die Gesellschaft war ihm bekannt – von allen Heerstraßen der Erde her. Sie kommt hier so wenig in Betracht wie der Reise- Landschafts- und Wagenwechsel. Was hatte das mit Geheimrat Feyerabends Besuch bei Ludchen Bock zu tun?
V.
Seinen Schutzengel glaubte auch er, Geheimrat Feyerabend, zu haben. Wie vom Professor Plockhorst gemalt hatte er sich ihn grade nicht vorgestellt; aber getraut hatte er ihm, verlassen hatte er sich auf ihn sein ganzes Leben durch gradesogut wie des Sophroniskos Sohn auf sein Dämonion. Auch des Daseins Giftbecher hatte er häufig genug aus seiner Hand hingenommen; immer in der Gewissheit, dass es dazu gehöre und unter jedesmaligen obwaltenden Umständen nicht anders sein könne. Tödlich brauchen ja die Tränke des Lebens nicht immer zu wirken. Ein tüchtiger Katzenjammer und Lebensekel genügt schon, um den festen Griff nach dem bittern Kelch verdienstlich zu machen. –
Für diesmal reichte der jugendliche Genius seinem greisen Schutzbefohlenen nur einen angenehm berauschenden Trank. Geheimrat Feyerabend verschlief die Fahrt und die wechselnde Reisegesellschaft, und da die Bemerkungen, die über beides gemacht werden können, schon recht häufig zu Papier und in Druck gebracht worden sind, so verliert die Nachwelt wenig, wenn das Manuskript hier eine Lücke bietet. Es wird nicht die letzte drin sein. –
Es war nicht eine der Linien, auf welcher die Blitzzüge verkehren, die Aufgang und Niedergang jetzt auf so leichte, angenehme, uns bequeme Weise miteinander in Verbindung bringen, wie die Vorfahren weder auf ihren Kriegs- noch auf ihren Friedenszügen es sich je im Wachen und im Traum als möglich in die Sinne kommen lassen konnten. Eine wenig befahrene, merkwürdigerweise mehr zu Krieges- als zu Friedenszwecken erbaute Bahn verbindet den größeren Weltverkehr mit Altershausen. Wenn es wieder die Gelegenheit geben sollte, das Wort: ›Kindlein, liebet euch untereinander!‹ nunmehr vermittelst rauchlosen Pulvers und den dazu passenden Schnellfeuergeschützen zwischen den Völkern zur Geltung zu bringen, kann sie auf einmal lebendig genug werden: gegenwärtig war sogar Fritze Feyerabend, der seinen Freund Ludchen Bock besuchen wollte in Altershausen und also sicherlich ein Anrecht auf sie haben durfte, vollständig neu auf ihr. Die Reisewege durch sein Leben hatten immer auf anderen Linien und nach anderen Richtungen hin gelegen.
In Athen, Rom und Byzanz war er bekannt und konnte auch die Hotelrechnungen von dorther aufweisen: aus Altershausen nicht!
Altershausen konnte ihm nur auftauchen wie das erste Kapitel der Genesis dem Geologen und Philosophen – nicht eine unbekannte, aber trotz aller Wissenschaft unbekannt gewordene Gegend.
Dass er seinen Geburtsort tief aus der Vergangenheit seiner Lebenszeit heraufholen musste, war ihm bewusst, und da hielt er sich denn dabei ganz richtig beim Näherkommen fürs erste an die alten Berggipfel, die über neue Dächer und neues Gemäuer hersahen. Er war darauf gefasst, dass er die augenblickliche »Jetztzeit« auch hiesigen Orts, von ihrem Rechte Gebrauch machend, vorfinden werde, und fühlte sich dadurch durchaus nicht in einem älteren, weil bessern Recht gekränkt. Wo der Tempel des kapitolinischen Jupiters stand, steht heute die Kirche Ara celi, und wer weiß, was später da noch mal stehen wird?
»Altershausen!« schnarrte der Schaffner, und auf seinen Arm gestützt verließ Geheimrat Feyerabend den Zug, der ihn dahin gebracht hatte. Die Höflichkeit und Freundlichkeit des Mannes hatte er nicht allein seiner Persönlichkeit und der Würde des Alters zu danken: Schwester Line hatte auch mit gesorgt, dass er richtig von Station zu Station weitergegeben worden war bis in den angenehmen Abend hinein.
»Hm, hm, hm«, brummte er, mit der Hand an der Stirn, ein wenig schwankend auf den Beinen und jetzt doch mit dem »Gefühl«, dass er nicht recht wisse, wo er eigentlich sei, wie er hierhergekommen sei und was er hier wolle, das heißt, was er hier noch so spät am Abend zu suchen habe.
Er war ja nicht allein auf dem Zuge gewesen! Es stieg anderes Menschtum aus, das nicht – bloß Ludchen Bock besuchen wollte und nicht den Titel Wirklich Geheimer Obermedizinalrat, Professor, Doktor an sich trug, neulich siebenzig Jahr alt geworden und, obgleich es daher kam, seit nahezu zwei Menschenaltern nicht in Altershausen gewesen war.
Ein Blitzzug würde wohl nicht um die Lebendigkeit, die sich jetzt für einige Minuten auf dem Bahnhofe von Altershausen entwickelte, da angehalten haben. Zwei oder drei Handelsreisende, ein jüdischer Viehhändler, mehrere mehr oder weniger behäbige Stadtbürger, ein älterer, jedenfalls der Justiz oder der Verwaltung angehörender Beamter mit einer Aktenmappe, ein jüngerer desselbigen Berufs mit einer Flurkarte legitimierten sich an der Bahnsperre, und – Geheimrat Feyerabend stand allein – glaubte allein zu sein mit der Abendsonne auf dem Bahnsteig seiner Vaterstadt! nie in seinem Dasein so sehr in der Fremde wie jetzt! Er konnte von dem,