Sieben gegen den Misthaufen, den er, wenn nicht als den selben, so doch als den gleichen an seinem richtigen Platze hinter der Superintendentur wenigstens mit der Nase wiederfand? Vor zwei Menschenaltern war er nicht bloß mit der Nase, sondern mit der ganzen Visage, ganz abgesehen davon, was er sonst dabei abkriegte, hineingedrückt worden von seinem Freunde Ludchen, und auch das war was gewesen wegen dessen seine Mutter seinen Freund nicht mit dem gehörigen Wohlwollen sehen konnte. Was den Vater anbetraf, so hielt sich der durch mehrere Tage, sowohl was Zärtlichkeit, als was Zorn anbetraf, möglichst fern von seinem Sprößling, und das Kind hörte ihn nur von weitem brummen: »Frau, der Junge stinkt ja noch immer fürchterlich! Ist denn der Geruch an dem Schlingel gar nicht wieder auszurotten? Krieg ihn, wie er dasteht und die Luft verpestet, doch noch mal in deinen Büketubben!«
Weiter, weiter so durch die balsamische Nacht, Fritz Feyerabend aus Altershausen! Nimm hin und mache die Gegenwart zur Vergangenheit und die Vergangenheit zur Gegenwart. Alten Menschen, die anständig einen heißen Lebenstag hinter sich haben, hilft man dann und wann zu einem Abendvergnügen: die Regel ist es freilich nicht! Die Ausnahme, vorzüglich die jetzt mit dir bei dieser deiner närrischen Altersvergnügensfahrt gemacht wird, bestätigt wahrhaftig nicht die Regel; aber du siehst, wie wohlwollend wir obersten Mächte immer noch gegen dich gesinnt sind: deinen Freund Ludchen Bock ließen wir dich wiederfinden, wie du ihn hier gelassen hast vor sechzig Jahren. Wir sind’s gewesen, die ihn dir zur Begrüßung nach dem Bahnhof schickten, – weiter, weiter hinein in die Nacht und den Traum vom Dasein des Menschen auf seiner Erde, altes närrisches Menschenkind!…
»Spitz, bist du denn das?« fragte Geheimrat Feyerabend, vor der Pforte des Amtsgerichtsgebäudes sich niederbeugend und einer feuchten, kalten Hundeschnauze die dürre Hand zum befreundeten Beriechen und Belecken hingebend, und zwar mit einiger Verwunderung; denn sie sind sonst durchaus nicht so, die Spitze. Von den Treppenstufen des Amtsgerichts war er, ohne zu bellen und bissig anzuspringen, heruntergekommen, wie seinerseits zur Begrüßung des greisen Altershausener Kindes, und nun erhob sich auch sein jetziger Herr, der gegenwärtige Nachtwächter der Stadt, aus seinem nächtlichen Vorschlummer auf der Treppe des Amtsgerichts und kam herzu:
»Na, was hat denn der Köter? Hierher, Bollmann!«
»Bollmann?!« wiederholte der Geheimrat. Hatte nicht sein Vater den Namen dem Wächter des Hauses zum Andenken an einen früheren Universitätsfreund und nochmaligen Amtsgenossen angehängt? War der Hund wirklich noch der Spitz des Hauses Feyerabend, oder war der Name weitergegeben worden, wie in Südwestdeutschland der des Pfalzverwüsters Melac?
Wie dem auch sein mochte: hatte der Greis eben vor dem Vaterhause nur gestanden und zu allem seinem Mauerwerk und Fenstern hingesehen, so war er nun mit »unserm Bollmann« als Führer drin – treppauf und -ab, durch Stuben und Kammern, vom Keller bis zum Boden, durch Hof und Garten, und mit dem alten unveränderten »Spitz« fehlte nichts mehr von alledem, was vor zwei Menschenaltern dagewesen war!
Aber diese Inventur der Vergangenheit dauerte nur einen Augenblick. Der Wasserkrug, der vor Mahomeds Bett umfiel und seinen Inhalt nicht verschütten konnte, ehe Allah seinen Propheten durch alle seine sieben Himmel geführt und ebenfalls ihm seinen Haushalt vom Keller bis zum Dache gezeigt hatte, kam wieder mal zur Geltung.
»Kann ich Sie womit dienen?« fragte der jetzige Nachtwächter von Altershausen, den gegen Fremde ihm zu vertraulich erscheinenden vierfüßigen Begleiter durch einen verdrießlichen Stockhieb von dem sonderbaren Nachtwandler wegscheuchend.
»Mit einiger Höflichkeit! wenn es Ihnen nicht allzu schwer wird«, sagte Doktor Feyerabend mit dem Tone, der auch in den erlauchtesten Wonneburgen der Menschheit ihm geholfen hatte, den Ton der Unterhaltung auf das richtige Maß zu stimmen.
»Ich habe Ihnen ja noch gar nichts mit Unhöflichkeit gesagt!« brummte der Mann, mit der Hand an der Mütze. »Dass Sie den Ort nicht von der Stelle tragen wollen, sehe ich auch noch bei schlafender Nacht. Kann ich Sie den Weg wohin zeigen, bin ich gern dafür da. Ich bin hier vom Magistrat bestellter Nachtwächter, und das Viech habe ich für’s Anbellen und nicht Anschmeicheln bei mir. Mein Name ist Ritterbusch, wenn Sie sich morgen vielleicht beim Herrn Burgemeister nach mir erkundigen wollen. Ja, ich bin der Nachtwächter hier in Altershausen!«
Dass letzteres auf uralter Wahrheit beruhte, hatte das alte Altershausener Stadtkind schon in Erfahrung gebracht; aber der Name!… Was war der Name an Trinkgeld wert in dieser Traumnacht! Es ist ein sonderbarer Vergleich, aber so warm er vorhin diese kalte Hundeschnauze in seiner Hand gefühlt hatte, so warm empfand er nun diesen Namen in seiner Seele.
»Ritterbuschen, ich verlasse mich ganz auf Sie. Wir kommen wohl etwas später nach Hause; aber ich weiß ja die Kinder gut bei Ihnen aufgehoben!« sagte eine liebe Stimme, das Spinnrad am Ofen hörte auf zu schnurren, und die zwei Kinder stürmten gegen die schöne junge Mutter an, die mit beiden Händen im langen weißen Handschuh ängstlich den Angriff auf den Provinzialglanz der Balltoilette von achtzehnhundertneunundvierzig abwehrte. Amélie, Königin der Franzosen, Elisabeth, Königin von Preußen, Alexandra Feodorowna, aller Reußen Zariza, Anna, Kaiserin von Österreich, hätten nicht strahlender und lebendiger mit Schinkenärmeln, Goldreifen um die Stirnen und in Kreuzbänderschuhen in die Altershausener Nacht aus den verschollenen Modenjournalen ihrer Zeit hineintreten können!
»Schaffe Sie den Jungen jedenfalls zur rechten Zeit ins Bett, Ritterbuschen, und sitze Sie nicht selber noch bei ihm, um ihn in den Schlaf zu erzählen, Großmutter Grimm«, sagte eine andere Stimme hinein in – die Kinderstube des Hauses Feyerabend, und der Wirkliche Geheime Medizinalrat Professor Dr. Feyerabend wendete sich an den Nachtwächter Ritterbusch vor dem Amtsgericht von Altershausen, klopfte dem Patron auf die Schulter und sagte: »Schlafen Sie ruhig weiter, lieber Mann. Wenn einer hier am Ort nicht die Ruhe zu stören wünscht, so bin ich der. Die Wege hier im Orte kenne ich selber.«
Der Spitz, der sich allgemach seiner eigensten Natur besser besonnen zu haben schien, boll dem alten Herrn giftigst nach; sein Herr, mit der Mütze in der Hand, brummte:
»Na nu? Grobheiten soll man sich bei nachtschlafender Zeit in seinem Amte von so fremder, unbekannter Menschheit sagen lassen? Na, komm du mir wieder!«
Mit verschlossenen Ohren ging Fritze Feyerabend weiter. Die Welt hatte sich ihm durch Bollmanns kalte Nase zu einem Kinder-Gitterbett zusammengezogen. Draußen musste es eben