wirf doch die dumme Verkleidung durch Zeit und Raum ab und Linchens dumme Bagage da über Kaufmann Quirinius’ Gartenzaun! Wir wollen hinter ihnen her! Du da herum, ich hier um die Ecke – an Mordmanns Planke fassen wir ein paar!« hätte Geheimrat Feyerabend beinahe gerufen, er fasste sich jedoch wenigstens so weit, dass er nur sagte, und zwar leise zu sich selber:
»Ärgere dich nicht, lieber armer Kerl! Sie machen es überall einem so und halten es für ihr Recht und haben vielleicht recht!«
Ein Zeichen, dass er sich nicht nur aus seiner wissenschaftlichen Erfahrung, sondern auch aus seinen eigenen Erlebnissen heraus hier auf dem Wege zum Ratskeller von Altershausen zurechtfinden konnte, wie auf jedem Wege zu allen menschlichen Wonneburgen rund um den Erdball! – Wir brauchen es wohl nicht hervorzuheben, dass er längst von seiner Wissenschaft aus seufzend »unheilbar!« gesagt hatte und wusste, wie er sich auch diesem Schicksal gegenüber zu benehmen habe.
»Wie alt bist du eigentlich, Ludchen?« fragte er, als der greise Freund Schwester Karolinens Koffer doch für einen Augenblick auf der Steinbank vor Schuster Pfannkuches Hause absetzte und mit dem Rockärmel den Schweiß von Stirn und kahlem Schädel wischte.
»Wie alt Ludchen ist, Herre?« grinste der arme Blödsinnige vergnüglich. »Das weiß keiner als Minchen! Ich weiß es nicht; aber ich zwinge die anderen Jungens noch alle. Minchen allein hat’s behalten, die anderen Großen haben es vergessen, auch der Herr Superdent und der Herr Rektor, die es aufgeschrieben haben. Sie aber sind auch gestorben und schön begraben – ich bin mit den anderen Jungens dabei gewesen auf dem Kirchhofe.«
Da nun schon Jung-Altershausen anfing, sich um die zwei Freunde zu sammeln und auch die »Großen« an die Fenster und Türen kamen, so wäre er gern weitergegangen; aber die Antwort, die ihm sein Freund Ludchen nicht geben konnte, kam aus dem Haufen.
»Siebenzig Jahre ist er alt. Er ist bloß mal auf den Kopf gefallen und so auf dem zwölften stehengeblieben.«
»Was wissen Sie denn, Meister Pfannkuche?« greinte Ludchen. »Was Sie wissen, weiß ich auch und mehr! Es hat einer im Blatt gestanden, der von hier ist, – Minchen hat’s vorgelesen und gesagt: Junge, das ist ja Fritze Feyerabend, und nun auch siebenzig!… Herr Pfannkuche, als ob ich Fritzen nicht kennte – besser als Sie, der ihn gar nicht kennt. Auf dem Markt wohnt er – haben seine Eltern mit ihm gewohnt, und Minchen hat gesagt: ›Ludchen, das ist nun ein großer Doktor geworden – wie schade, dass er es nicht schon war, damals als wir unser Unglück hatten. Er war aber nur mit dir aus einem Jahr.‹«
»Er meint den Herrn Geheimen Rat Feyerabend, den berühmten Arzt, von dem neulich in allen Zeitungen gestanden hat. Ja, der ist hier aus Altershausen, da hat der arme Junge recht. Ich reiche nicht bis dahin hinunter in die Zeit, aber es wird wohl richtig sein, dass sie ihrerzeit gute Freunde gewesen sind, der Herr Geheimrat und unser Ludchen Bock.«
»Wohl möglich, Herr Pfannkuche; aber der alte Mann ist müde. Ist es noch weit bis zum Ratskeller?«
»Bloß da um die Ecke, mein Herr.«
Nimmer hatte ein erlauchter Fremdling sein Inkognito so krampfhaft festgehalten, wie der Wirkliche Geheime Obermedizinalrat Professor Doktor Feyerabend das seinige jetzt.
Fünf Minuten später schwang Ludchen Bock seines Freundes Reisegepäck wie ein Dreißigjähriger von der Schulter herunter und Schwester Lines Lederkoffer dem herbeieilenden Hausknecht vom Ratskeller in Altershausen zu:
»Ein Herre für die Nacht, Tönnies.«
VII.
Der »Herre für die Nacht« war nicht gekommen, um sich auch hier am Ort, wie es sonst überall zu seinem Wirken auf Erden zugehört hatte, die Stirn kühl, das Auge klar und die Hand fest und sicher zu erhalten. Ihn in das Gegenteil von all solchen höchst verdienstlichen menschlichen Fähigkeiten zu stürzen, hatte sein Empfang und Einzug in Altershausen das möglichste geleistet. Seine Stirn fühlte sich durchaus nicht kühl an, was das mit seinen Augen war, wusste er selbst nicht recht, und mit der Hand, aus der ihm eben der herzueilende Kellner den Regenschirm nahm, hätte er niemandem den einfachsten Star stechen oder auch ein Krähenauge operieren können: es ist leichter, sich in eine fremde Welt zu finden, als sich in einer fremdgewordenen wieder heimisch zu machen!
Alles, was ihm aus dem Gedächtnis abhanden gekommen war, noch vorhanden ohne die geringste Veränderung seit dem Tage seines Auszugs aus dieser ersten Erdenheimat! Und er, der Greis, auf der obersten Stufe der Steintreppe des Ratskellers noch dabei wie vor zwei Menschenaltern!
Der Markt von Altershausen der eigentlich nur eine breitere Straße war, mit dem Vaterhause auf der »Sonnenseite« und der ganzen Nachbarschaft zur Seiten und gegenüber – wie da plötzlich wieder alles: »Recht schönen guten Abend, Kleiner!« ruft in der abendsonnegetränkten beginnenden Dämmerung!
Und der Geruch!… der Geruch von Altershausen!…
Er war es, der unter dem Treppenvordach des Ratskeller, wie mit einem freundschaftlichen Ellbogenstoß, fragte:
»Du kennst mich doch noch, Alter?«
Je berühmter der Arzt, desto mehr Erdengerüche muss er kennengelernt haben, gute und schlimme; denn nicht nur in den Dachstuben und Kellerwohnungen der Menschheit, sondern auch aus ihren Wonneburgen gehen von den Kranken- und Sterbebetten allerlei Düfte aus, die er wiederkennen muss, wenn sie ihm von neuem in die Nase kommen. Den Geruch seiner Kindheitsheimatstadt hatte Wirklicher Geheimer Obermedizinalrat Professor Doktor Fritz Feyerabend seit zwei Menschenaltern nicht in der Nase gehabt, und nun – wenn ihn etwas dazu hätte bringen können, vor der Tür des Ratskellers von Altershausen seinem Freund Ludchen gegenüber sein Inkognito fallen zu lassen, so wäre er es gewesen – dieser Geruch – der Geruch von Altershausen!
Irritabilität und Sensibilität zu gleichen Teilen in Tätigkeit und Mitleidenschaft gezogen, bezwang er sich, Geheimrat Feyerabend. Gerührten Blickes legte er jetzt nur dem Freunde die Hand auf die Schulter, sagte:
»Ich danke dir, Ludchen«,
und legte, da der andere seine Hand hohl ihm hinreichte, – einen Taler hinein.
»O Herre! Herre! Herre!« grinste und stammelte Ludchen Bock, selig, wie wenn er vor sechzig Jahren einen Groschen auf der Straße gefunden hatte. Und wie ein Junge, der befürchtet, dass man ihm den Schatz wieder abnehme, verschwand er auf seinen siebenzigjährigen Beinen um die nächste Straßenecke.
»Minchen!