und hochgegipfelte Bäume.«
Ja, wenn er das nur zu Gesicht bekommen hätte; aber das war ihm ja, soweit es Altershausen betraf, alles »verbaut« worden im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts! Wie konnten ihn die lieben Gestalten und Bilder, die ihn hier erwarten mochten, vor diesem neuen Stationsgebäude in Empfang nehmen? Und die lange, freche, öde Häuserreihe da, die Treppe hinunter, jenseits der Landstraße! und das »Bahnhofshotel«! Das sollte sein Altershausen sein, sein Geburtsort, in welchem er seinen besten ersten Freund, Ludchen Bock, besuchen wollte?
Ja, da stand er, und –
»da er sein Vaterland ansah,
Hub er bitterlich an zu weinen und schlug sich die Hüften,
Beide mit flacher Hand, und sprach mit klagender Stimme:
›Weh mir! zu welchem Volk bin ich nun wieder gekommen?‹«
Er hätte nur den Stationsvorstand fragen können; aber auch dieser Herr, dessen Aufmerksamkeit er einige Augenblicke lang erregt zu haben schien, verschwand, ohne nur zum Gruß an die rote Mütze gegriffen zu haben. Betroffen wie Odysseus in Phorkys’ Bucht sah der Fremdling im Vaterlande auf sein Gepäck:
»Wo verberg ich dies viele Gut? und wohin soll ich selber
Irren? O wäre doch dies im phäakischen Lande geblieben!«
»Soll ich Sie das nach dem Hotel tragen?« fragte eine weinerliche Kinderstimme hinter ihm, und wie der landfremde König von Ithaka hatte er keine Ahnung, dass nur diese Stimme es war, die ihm sagen konnte, dass er wirklich noch einmal zu Hause in Altershausen angelangt sei und seine Fahrt nach Traumland zum Zweck führen könne. – – –
Der greise Ankömmling sah sich um nach dem Fragesteller und sah in ein altes, altes, feistes, runzelloses, unbärtiges Greisengesicht und in Augen, deren Zwinkern unter schlaffen Lidern hervor ihm nur zu gut aus seiner Wissenschafts- und Lebenspraxis bekannt war.
»Ich bin ja Ludchen!« greinte das Gespenst, und Fritze Feyerabend aus Altershausen, der weder in den Wonneburgen der Fürsten dieser Erde noch sonstwo dem Erdenelend gegenüber mit den Augen gezwinkert hatte, fuhr zusammen und trat drei Schritte zurück und stammelte:
»Ludchen Bock?!«
»Ludchen – Ludchen Bock!- lachte das Ding kindisch vergnügt. »Soll ich Sie Ihren Koffer tragen? ich weiß den Weg. Ich weiß alles hier, und sie kennen mich alle. Wenn die anderen Jungens nicht wären, wäre ich der einzige. Soll ich Sie Ihren Koffer in die Stadt tragen? Ich bin Ludchen Bock! Fragen Sie nur, wen Sie wollen hier; sie kennen mich alle und wissen, wer ich bin! Die verfluchten anderen Jungen!… aber sie trauen mir alle.«
»Ich auch, Ludchen!« sagte der Wirkliche Geheime Obermedizinalrat Professor Dr. Feyerabend. »Aber nach dem Ratskeller möchte ich zum Übernachten, nicht nach der neuen Wirtschaft da drüben. Gibt es den Ratskeller noch bei euch hier in Altershausen?«
Das alte blödsinnige Stadtkind starrte den alten fremden Herrn an, wie verblüfft ob der Dummheit der Frage. Dann lachte es nur, wie die Weisheit lacht, wenn sie durch Tatsachen antwortet, griff nach dem Koffer der Schwester Karoline, schwang ihn sich auf die Schulter, schritt mit einem Kopfnicken rückwärts über die Schulter dem Fremden voran den Steig vom Bahnhof hinunter, über die Landstraße, vorbei an der neuen Häuserreihe, die dem noch mal auf Besuch gekommenen Stadtsohn bis jetzt Altershausen verdeckte. Willenlos, schwankend, wie betäubt durch solch rasches Wiederfinden folgte der »große Mann« aus der »großen Welt« seinem besten ersten Freunde in der Welt.
Sein Schicksal hatte an manchem Endpunkt seiner Lebensfahrten für mannigfache Überraschungen gesorgt, aber so wie jetzt doch noch nie. Er war an vielen Orten von mancherlei Menschentum erwartet und auf allerlei Weise in Empfang genommen worden, aber so wie jetzt noch nicht.
»Hat der alte Nothnagel den Ratskeller noch?« fragte er idiotisch wie sein Führer – zeitvergessen, als ob nicht fast zwei Menschenalter verflossen seien, als der Nothnagel, den er unter dem Eindruck der Stunde meinte, den Ratskeller von Altershausen innehatte.
VI.
Der eine hinter dem anderen überschritten die zwei Freunde vom Bahnhofe her die Landstraße, ließen das Bahnhofshotel, von dessen Schwelle aus ein etwas kurios aussehender Portier dem Stadtsimpel Ludchen eine Faust wies, zur Linken und von der Brücke an das, was seit sechzig Jahren an Baulichkeiten zu Altershausen hinzugekommen war, im Rücken. Wie wenn ein Theatervorhang mit griechischem Tempel und der dazu gehörigen Staffage drauf emporrollt und dahinter auf der Bühne Wilhelms Schreibstube aus den Geschwistern erscheint, so war das!… Von dem leise hinsickernden Bach, der doch zur Rechten der Brücke den dreieckigen Teich bildete, bis zu den Resten der mittelaltrigen Stadtmauer das Wiesental entlang und den grauen Dächern drüber und dem stumpfen Turm der Stadtkirche – von den Wäldern und Berggipfeln im Halbkreis rundum gar nicht zu reden – alles, alles, wie es war vor sechzig Jahren, alles, wie Fritze Feyerabend es hier gelassen hatte, mit seines Schicksals Faust am Kragen, auf seinen Lebensweg hingedreht und fürdergestoßen:
»Nicht zu viel umsehen, Kind! Marsch, Junge!« – – –
Er hatte sich stets auf seinen klaren Kopf etwas eingebildet, der Wirkliche Geheime Obermedizinalrat Professor und Doktor Friedrich Feyerabend: augenblicklich sah’s in ihm nebelig aus, und so war’s recht gut, dass über ihm, beim Wiedereinzug in die erste Erdenheimat, wenigstens der Abendhimmel seine Schönheit, Heiterkeit und Klarheit weiter behielt.
So schönes Wetter, und – beide alte Kinder von Altershausen noch dabei! –
Von Schritt zu Schritt wurde das Vergangene lebendig. Sogar die Pflastersteine unter den Füßen fingen an zu reden, nicht bloß die Häuser, die Mauern, die Fenster, die Türen und Torwege und die Treppen und Bänke davor – alles, alles sagte:
»Guten Abend, Herr Geheimer Obermedizinalrat! Herrje, sehen wir dich auch mal und so wieder, Fritze Feyerabend?«
Da schrillte es hinter ihnen:
»Ludchen! Ludchen! Ludchen Bock!«
und der Schattenführer mit Schwester Karolines elegantem Reisekoffer auf der Schulter wendete sich erbost und drohte mit der Faust:
»Infame Kröten! Da sind die anderen Jungens wieder! Mit Steinen soll man nicht schmeißen, der Rektor hat’s verboten und die Polizei auch, aber – wenn ich einen fasse!«
Er setzte das