wird, das hat sie von den Hausdächern und Türmen vertrieben, wie der Geruch die Käfers und Raupen und Buttervögels hier aus dem Buschwerk und sonstiger unserer Kunstgärtnerei. Da draußen jenseits der Vorstädte möchten sie sich jawohl noch halten; aber da kommen denn wieder die Fabriken mit ihren Schornsteinen und Gequalme und verekeln ihnen ihre Daseinslust, und es wird wohl auch nichts mehr für sie sein. Ich komme wenig dort hinaus und kann’s also nicht sagen.«
Er hatte auf mancher Schulbank gesessen, bis er es zu seiner jetzigen Stellung in seiner wissenschaftlichen Welt und zu seinem Titel Geheimrat bracht hatte: selten war er so mit der Überzeugung, dass der Professor auf dem Katheder recht habe, nach Hause gegangen.
Er ging nach Hause, Professor Dr. med. Geheimrat Feyerabend, und kam unterwegs in seinen Gedanken auf die der Merkwürdigkeit wegen übriggelassenen fünfzig Stück Präriebüffel, auf das neue afrikanische Kolonial-Jagdgesetz, betreffend »Löwen-Schonzeit«, und auf das ihm gleichfalls als »etwas Neues aus Afrika« bekanntgewordene Handbuch über rationelle Straußenzucht. Damit zuletzt zu der Überzeugung, dass, wenn das so weitergehe, der Mensch sich zu Ende des zwanzigsten Jahrhunderts unzweifelhaft recht praktisch und verständig mit dem fünften Schöpfungstage und unseres Herrgotts großem Tiergarten auseinandergesetzt haben, aber eine Kinder-Naturgeschichte mit den dazu gehörigen Abbildungen aus dem Anfang des neunzehnten Säkulums ein bibliografischer Schatz sein werde.
Dass das biblische Wort:
»Füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über Fische im Meer und Vögel unter dem Himmel und über alles Tier, das auf Erden kreucht« –
ihm die Lust, das Spazierengehn wieder zu erlernen, merklich erhöht habe, konnte er nicht sagen und seine Umgebung zu Hause auch nicht.
Im Gegenteil. Es kam ihm zu Hause vor, als ob die Erdoberfläche von »Uns«, d. h. seinesgleichen, reichlich, überreichlich gefüllt und es durchaus nicht notwendig sei, dass er mit seiner Person, trotz aller vom Staat und von Privaten anerkannten Verdienste, das Gedränge drauf noch länger vermehre.
II.
Er wurde einige Tage durch sich unerträglich, und da auch Regenwetter einfiel, gab er natürlich seiner Stimmung oder Verstimmung anderen gegenüber Laut. Er bellte nicht, aber er äußerte, wie seine alte Schwester sagte: gegen Gott und die Welt undankbare Anschauungen und wurde freundlich, aber bestimmt zurechtgewiesen. Karoline hieß sie, und es ist ein Charakterzug, dass sie sich nie, von Kindesbeinen an, auf so was wie »Lina!«, »Line!«, »Linchen!« einließ und draufhin kam, wenn man ihr rief.
Geheimrat Feyerabend erfreute sich der Beaufsichtigung, Bevormundung, Bemutterung durch sie in allen menschlichen und göttliche Dingen in einer Art und Weise, die alle vom Menschen gegen sich selber in Staat und Kirche aufgerichteten Schutzwehren für ihn persönlich überflüssig machten. Zehn bis zwölf Jahre war das Kind jünger als er; aber dass das je ihrer Autorität Abbruch getan hätte, hatte er nie bemerkt und seine dienende Hausgenossenschaft ebenfalls nicht. Sie hatten alle noch immer ihrem bessern Verständnis sich fügen oder, wie er sich ausdrückte: ihr klein beigeben müssen. Klüger als sie war sie stets und nie zu ihrem, des Bruders und des Hauses, Nachteil, wenn das häufig auch nur widerwillig und mit Gemurr anerkannt wurde. –
Nach dem, was auch sie ihres Herrn Bruders »großartigen Ehrentag« nannte, gefiel ihr der »alte Junge« bald gar nicht recht mehr. Mit ihrem Fritz reichte sie auch noch in die Zeit zurück, wo in den Schulanthologien der siebenzigste Geburtstag vom braven J. H. Voß noch zu finden war als ein Musterstück für die deutsche Jugend. Und da das gute Mädchen alle seine Schulbücher in seinem Bücherschränkchen aufbewahrte, so griff es selbstverständlich auch für den vorliegenden Fall hinein und holte das Sachdienliche heraus. Merkwürdigerweise aber benutzte Fräulein Karoline Feyerabend die Idylle als ein warnendes Exemplum und den redlichen Tamm – »seit vierzig Jahren in Stolp, dem gesegneten Freidorf, Organist, Schulmeister zugleich und ehrsamer Küster« –, um ihrem Bruder eine Rede zu halten, welche das liebe Mütterchen Tamm sicherlich in nicht ungerechtfertigtes Erstaunen versetzt haben würde.
»Höre mal, ganz Geheimer (seit seiner demgemäßen Betitelung gab auch sie ihm die Ehre davon), eines sage ich dir: dass du mir jetzt nicht zu früh ein alter Mann wirst! Klateriges, winseliges Hinhocken in Ehren und Würden, wenn man den alten Kaiser, den alten Bismarck, den alten Roon und Moltke an allen Wänden aufgehängt sieht, finde ich lächerlich, und aufs Fliegenabwehren beim Nachmittagsschlaf lasse ich mich fürs erste bei dir auch noch nicht ein. Kommt die Zeit und hat der liebe Gott mir bis dahin das Leben geschenkt, so weißt du, dass ich mich auch dazu mit meinem Strickzeuge zurechtsetzen kann und es gern tun werde. Was sind denn siebenzig Jahre, wenn man noch so gut zu Beinen ist wie du und, soweit ich es beurteilen kann, auch an geistigen Fähigkeiten noch nicht merklich nachgelassen hat? Das letzte Wort behältst du immer noch gern wie sonst; daran merke ich auch noch keinen Unterschied gegen früher und worüber nicht bloß deine gelehrte Zeitgenossenschaft, sondern auch ich hier im Hause wohl ein Wort mitreden könnten.«
Der Jubilar lächelte die wohlmeinende gute Seele freundlich zur Tür hinaus: er hatte sich schon von selber besten Rat gegeben:
»Bleib in den Stiefeln, Mensch! So lange als möglich. Zwackt dich das Podagra an dem einen Fuß, so umwickele die dumme Pfote; aber den Stiefel zieh fernerhin über das gesund gebliebene Glied und tritt fest auf. Es braucht kein Reiterstiefel zu sein, wie der des greisen, gichtischen, rheumatischen und asthmatischen Löwen auf seiner sorgenvollen Terrasse zu Ohnesorge. Man muss immer ein Waffe behalten, um einem Eselstritt, solang es noch angeht, zuvorkommen zu können. Grade nach den größten Siegesschlachten im Menschenleben ist das am nötigsten und gilt nicht bloß für Potsdam, Sankt Helena und Friedrichsruhe.« –
Größeste Siegesschlachten hatte Geheimrat Feyerabend zwar nicht erfochten; aber eine Autorität in seinen Wissenschaften war er gewesen und hatte auf seinen Berufsfeldern seine von den Fachgenossen anerkannten Siege gewonnen: lassen wir uns herab von der Terrasse zu Sanssouci auf seine arbeit-, erfolg-, sorgen-, freuden- und verdrussbeladene Scholle im Dasein und – lassen wir ihn ja in den Stiefeln bleiben! Das heißt: sehen wir ihn auch in Schlafrock und Pantoffeln seines nächsten Weges durch seine übrige Zeit weiterziehen und sich mit dem im Seiger niederrieselnden Sande abfinden.
Er schnupfte nicht, aber er rauchte und – es kam ein sehr schöner Herbst. Er