kleine Spitznasige mit dem Klemmer, das ist der Herr Kassierer, von dem er jeden Sonnabend seine Lohntüte in Empfang nimmt und mit dem er sich schon ein paarmal wegen der hohen Abzüge kräftig gestritten hat. Komisch, wenn der an seiner Kasse steht, hat er nie das Parteiabzeichen getragen!, denkt Quangel flüchtig.
Aber die meisten Gesichter, die er sieht, sind ihm völlig unbekannt, es sind wohl fast nur Herren aus den Büros, die hier sitzen. Plötzlich wird Quangels Blick scharf und stechend, in einer Gruppe hat er den Mann entdeckt, den er vorhin vergeblich auf dem Abtritt gesucht hat, den Tischler Dollfuß. Aber der Tischler Dollfuß trägt jetzt keine Arbeitskluft, er trägt einen feinen Sonntagsanzug und redet mit den zwei Herren in Parteiuniform ganz so, als seien sie seinesgleichen. Und jetzt trägt auch der Tischler Dollfuß ein Hakenkreuz, dieser Mann, der ihm schon ein paarmal in der Werkstatt durch sein leichtsinniges Gerede aufgefallen ist! So ist das also!, denkt Quangel. Das ist also ein richtiger Spitzel. Womöglich ist der Mann gar kein richtiger Tischler und heißt auch nicht Dollfuß. War Dollfuß nicht ein Kanzler in Österreich, den sie ermordet haben? Alles Schiebung – und ich habe nie was gemerkt, ich dummes Aas!
Und er fängt an, darüber nachzugrübeln, ob der Dollfuß schon in seiner Werkstatt war, als der Ladendorf und der Tritsch abgelöst wurden und alle munkelten, sie seien ins KZ gewandert.
Quangels Haltung hat sich gestrafft. Achtung!, hat es in ihm gesagt. Und: Hier sitz ich ja wie unter Mördern! Später denkt er: Ich werde mich auch von diesen Brüdern nicht kriegen lassen. Ich bin eben nur ein oller, dussliger Werkmeister, ich versteh von nischt was. Aber mitmachen, nee, das tu ich nicht. Ich hab’s heute früh gesehen, wie es die Anna gepackt hat und danach die Trudel; ich mach bei so was nicht mit. Ich will nicht, dass eine Mutter oder Braut durch mich so hingerichtet wird. Die sollen mich rauslassen aus ihren Sachen …
So denkt er. Unterdes hat sich der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Vorstandstisch ist eng von braunen Uniformen und schwarzen Röcken besetzt, und auf dem Rednerpult steht jetzt ein Major oder Oberst (Quangel hat es nie gelernt, Uniformen und Rangabzeichen auseinanderzuhalten) und spricht von der Kriegslage.
Natürlich ist die großartig, der Sieg über Frankreich wird gebührend gefeiert, und es kann nur eine Frage von wenigen Wochen sein, dass auch England am Boden liegt. Dann kommt der Redner allmählich dem Punkte näher, der ihm am Herzen liegt: wenn nämlich die Front so große Erfolge erzielt, so wird erwartet, dass auch die Heimat ihre Pflicht tut. Was nun folgt, das klingt beinahe so, als komme der Herr Major (oder Oberst oder Hauptmann) direkt aus dem Hauptquartier, um der Belegschaft der Möbelfabrik Krause & Co. vom Führer zu sagen, dass sie unbedingt ihre Leistungen steigern müsse. Der Führer erwartet, dass die Fabrik in drei Monaten ihre Leistung um fünfzig Prozent, in einem halben Jahr aber aufs Doppelte gesteigert hat. Vorschläge, um dieses Ziel zu erreichen, werden aus der Versammlung gerne entgegengenommen. Wer aber nicht mitmacht, ist als Saboteur zu betrachten und entsprechend zu behandeln.
Während der Redner noch ein »Siegheil« auf den Führer ausbringt, denkt Otto Quangel: Dumm sind die, dumm wie Schifferscheiße! England liegt in ein paar Wochen am Boden, der Krieg ist alle, und wir steigern in einem halben Jahre unsere Kriegsproduktion um hundert Prozent! Wer denen bloß so was abnimmt?
Aber er schreit brav sein »Siegheil« mit, setzt sich wieder und blickt dann auf den nächsten Redner, der in brauner Uniform das Pult betritt, die Brust dick mit Medaillen, Orden und Abzeichen geschmückt. Dieser Parteiredner ist eine ganz andere Sorte Mann als sein militärischer Vorredner. Von allem Anfang an spricht er scharf und zackig von dem Ungeist, der immer noch in den Betrieben umgeht, trotz der herrlichen Erfolge des Führers und der Wehrmacht. Er redet so scharf und zackig, dass er nur brüllt, und er nimmt kein Blatt vor den Mund, als er von den Miesmachern und Meckerern spricht. Jetzt soll und wird der letzte Rest von ihnen ausgetilgt werden, Schlitten wird man mit ihnen fahren, man wird ihnen was über die Schnauze geben, dass sie nie wieder die Zähne auseinanderkriegen! Suum cuique, das hat auf den Koppelschlössern gestanden im Ersten Weltkrieg, und: Jedem das Seine, das steht jetzt über den Toren der Konzertlager! Da wird denen was beigebracht, und wer dafür sorgt, dass so ’n Kerl oder so ’n Weib reinkommt, der hat was geleistet für das deutsche Volk, und der ist ein Mann des Führers.
»Euch aber alle hier, die ihr hier sitzt«, brüllt der Redner zum Schluss, »ihr Werkstättenleiter, Abteilungsvorsteher, Direktoren – euch mache ich persönlich dafür haftbar, dass euer Betrieb sauber ist! Und Sauberkeit, das ist nationalsozialistisches Denken! Nur das! Wer da schlappschwänzig ist und weichmäulig und wer nicht alles anzeigt, auch die geringste Kleinigkeit, der fliegt selber ins KZ. Dafür stehe ich euch persönlich, ob ihr nun Direktor seid oder Werkmeister, ich bring euch zurecht, und wenn ich euch die Schlappheit mit den Stiebeln aus dem Leibe treten soll!«
Der Redner steht noch einen Augenblick da, er hat seine Hände wutverkrampft erhoben, er ist blaurot im Gesicht. In der Versammlung ist es nach diesem Ausbruch totenstill geworden, sie machen alle ziemlich bekniffene Gesichter, sie, die so plötzlich und unverhüllt zu Spitzeln ihrer Kameraden gemacht wurden. Dann stampft der Redner mit schweren Schritten von seinem Pult hinunter, wobei die Abzeichen auf seiner Brust leise klingeln, und nun erhebt sich der blasse Generaldirektor Schröder und fragt mit sanfter, leiser Stimme, ob etwa Wortmeldungen vorlägen.
Ein Aufatmen geht durch die Versammlung, ein Zurechtrücken – als wäre ein böser Traum ausgeträumt, und der Tag komme wieder zu seinem Recht. Es scheint niemand zu sein, der jetzt noch sprechen will, alle haben sie wohl den Wunsch, möglichst bald diesen Saal zu verlassen, und der Generaldirektor will eben die Versammlung mit einem »Heil Hitler« schließen, da steht plötzlich im Hintergrund ein Mann in blauer Arbeitsbluse auf und sagt, was die Leistungssteigerung in seiner Werkstatt angehe, so sei das ganz einfach. Man müsse nur noch die und die Maschinen aufstellen, er zählt sie auf und erklärt, wie sie aufgestellt werden müssen. Ja, und dann müsse man noch sechs oder acht Leute aus seiner Werkstatt raussetzen, Bummelanten und Nichtskönner. Dann schaffe er das mit den hundert Prozent schon in einem Vierteljahr.
Quangel steht kühl und gelassen da, er hat den Kampf aufgenommen. Er fühlt, wie sie ihn alle anstarren, diesen einfachen Arbeiter, der so gar nicht zwischen diese feinen Herren gehört. Aber er hat sich nie was aus den Menschen gemacht, ihm ist es egal, ob sie ihn anstarren. Jetzt, wo er ausgeredet hat, stecken sie am Vorstandstisch die Köpfe über ihn zusammen. Die Redner erkundigen sich, wer das wohl ist, dieser Mann in der blauen Bluse. Dann steht der Major oder Oberst auf und sagt Quangel, die technische Leitung werde sich mit ihm wegen der Maschinen besprechen, aber wie er das meine mit den sechs oder acht Leuten, die aus seiner Werkstatt raus sollten?
Langsam