2 hinter sich …«
Der Ankläger unterbricht wieder. Er kläfft los, der Anwalt habe wiederum das Verbot des Gerichtshofes übertreten.
Der Verteidiger widerspricht.
Der Ankläger liest ab, von einem Block: »Nach dem Stenogramm hat die Verteidigung Folgendes gesagt: Sie hat – auch aus diesem Grunde – den Schutz des Paragrafen 51 Absatz 2. Die Worte ›Auch aus diesem Grunde‹ beziehen sich ganz klar auf die von der Verteidigung behauptete Geisteskrankheit der Familie Heffke. Ich beantrage Gerichtsbeschluss!«
Präsident Feisler befragt den Verteidiger, worauf er die Worte »Auch aus diesem Grunde« bezogen habe?
Der Anwalt erklärt, diese Worte hätten sich auf im weiteren Verlauf seiner Verteidigung zu entwickelnde Gründe bezogen.
Der Ankläger schreit, niemand beziehe sich in seiner Rede auf etwas, das noch nicht gesagt worden sei. Eine Bezugnahme könne nur auf Bekanntes, nie auf Unbekanntes erfolgen. Die Worte des Herrn Verteidigers stellten nichts als eine faule Ausrede dar.
Der Verteidiger protestierte gegen den Anwurf, eine faule Ausrede gebraucht zu haben. Im Übrigen könne man sich in einer Rede sehr wohl auf etwas noch Vorzutragendes beziehen, dies sei eine bekannte Redekunst, Spannung auf etwas noch Vorzutragendes zu erzeugen. So habe zum Beispiel Marcus Tullius Cicero in seiner berühmten dritten Philippika gesagt …
Anna Quangel war vergessen; jetzt sah Otto Quangel mit vor Staunen geöffnetem Munde von einem zum anderen.
Ein hitziger Disput war im Gange. Es regnete Zitate in Latein und Altgriechisch.
Schließlich zog sich der Gerichtshof wiederum zurück, und Präsident Feisler verkündete bei seinem Wiedererscheinen zur allgemeinen Überraschung (denn die meisten hatten über dem gelehrten Disput den Anlass dazu völlig vergessen), dass dem Anwalt der Angeklagten wegen nochmaliger Übertretung eines Gerichtsbeschlusses das Wort entzogen sei. Die Offizialverteidigung der Anna Quangel sei dem zufällig anwesenden Assessor Lüdecke übertragen.
Der graue Verteidiger verbeugte sich und verließ den Sitzungssaal, versorgter denn je aussehend.
Der »zufällig anwesende« Assessor Lüdecke erhob sich und sprach. Er hatte noch nicht viel Erfahrung, er hatte auch nicht recht zugehört, er war vom Gerichtshof eingeschüchtert, außerdem war er zurzeit stark verliebt und keines vernünftigen Gedankens fähig. Er sprach drei Minuten, bat um mildernde Umstände (falls der Hohe Gerichtshof nicht anderer Meinung sein sollte, in welchem Falle er bat, seine Bitte als ungesprochen anzusehen) und setzte sich wieder, sehr rot und verlegen aussehend.
Dem Verteidiger Otto Quangels wurde das Wort erteilt.
Er erhob sich, sehr blond und sehr hochmütig. In die Verhandlung hatte er bisher in keinem Fall eingegriffen, er hatte sich nicht eine Notiz gemacht, der Tisch vor ihm war leer. Während der stundenlangen Verhandlung hatte er sich eigentlich nur damit beschäftigt, seine rosigen, sehr gepflegten Fingernägel sanft gegeneinander zu reiben und immer wieder genau zu betrachten.
Jetzt aber sprach er, der Talar war halb geöffnet, eine Hand hatte er in der Hosentasche, die andere machte sparsame Gesten. Dieser Verteidiger konnte seinen Mandanten nicht ausstehen, er fand ihn widerlich, beschränkt, unglaubhaft hässlich und gradezu abstoßend. Und Quangel hatte leider alles getan, diese Abneigung seines Verteidigers noch zu verstärken, indem er trotz des dringenden Abratens Dr. Reichhardts dem Anwalt jede Auskunft verweigert hatte: er brauchte keinen Anwalt.
Jetzt also sprach Rechtsanwalt Dr. Stark. Seine nasale, schleppende Redeweise stand in starkem Gegensatz zu den krassen Worten, die er gebrauchte.
Er sagte: »Selten haben wohl wir alle, die wir hier zur Stunde in diesem Saale versammelt sind, ein solches Bild abgrundtiefer menschlicher Verworfenheit vorgeführt bekommen, wie es hier heute geschehen ist. Landesverrat, Hochverrat, Hurerei, Kuppelei, Abtreibung, Geiz – ja, gibt es denn ein menschliches Verbrechen, das mein Mandant nicht auf sich geladen, an dem er nicht teilgenommen hat? Hoher Gerichtshof, meine Herren, Sie sehen mich außerstande, einen solchen Verbrecher zu verteidigen. In einem solchen Falle lege ich die Robe des Verteidigers ab, ich selbst, der Verteidiger, muss zum Ankläger werden, und mahnend erhebe ich meine Stimme: die Gerechtigkeit nehme in ihrer äußersten Strenge den Lauf. In Abänderung eines bekannten Satzes kann ich nur sagen: Fiat justitia, pereat mundus!1 Keine Milderungsgründe für diesen Verbrecher, der den Namen Mensch nicht verdient!«
Damit verbeugte sich der Verteidiger zur allgemeinen Überraschung und setzte sich wieder, sorgfältig die Hosen über den Knien hochziehend. Er warf einen prüfenden Blick auf seine Nägel und begann, sie sachte gegeneinander zu reiben.
Nach einem kurzen Stutzen fragte der Präsident den Angeklagten, ob er noch etwas zu seinen Gunsten vorzutragen habe. Er möge sich aber gefälligst kurz fassen.
Otto Quangel sagte, seine Hosen festhaltend: »Ich habe nichts zu meinen Gunsten zu sagen: Aber ich möchte meinem Anwalt aufrichtig für seine Verteidigung danken. Endlich habe ich erfasst, was ein Linksanwalt ist.«
Und Quangel setzte sich unter stürmischer Bewegung der anderen. Der Anwalt unterbrach sein Nagelpolieren, erhob sich und verkündete nachlässig, dass er auf einen Antrag gegen seinen Mandanten verzichte, dieser habe nur wieder bewiesen, dass er ein unverbesserlicher Verbrecher sei.
Dies war der Augenblick, da Quangel lachte, zum ersten Mal seit seiner Verhaftung, nein, seit undenklichen Zeiten, heiter und unbekümmert lachte. Die Komik, dass dieses Verbrechergesindel ihn ernsthaft zum Verbrecher stempeln wollte, überwältigte ihn plötzlich.
Der Präsident ließ den Angeklagten wegen seiner unziemlichen Heiterkeit scharf an. Er erwog, mit noch schärferen Strafen gegen Quangel vorzugehen, aber dann fiel ihm ein, dass er eigentlich alle nur möglichen Strafen bereits über den Angeklagten verhängt hatte, dass ihm nur noch die Ausschließung aus dem Verhandlungszimmer blieb, und er bedachte, wie wenig es wirken würde, wenn er das Urteil in Abwesenheit beider Angeklagten verkünden würde. So beschied er sich zur Milde.
Der Gerichtshof zog sich zur Urteilsfällung zurück.
Große Pause.
Die