wie in der Todeszelle der Plötze. Sein Geist hatte nie so frei schweifen können wie hier.
Ein gutes Leben, dieses Leben!
Hoffentlich ging es auch Anna gut. Aber der alte Rat Fromm war ein Mann, der Wort hielt. Auch Anna würde über alle Verfolgungen hinaus sein, auch Anna war frei, gefangen frei …
68. Die Gnadengesuche
Otto Quangel hatte erst seit einigen Tagen in der Dunkelzelle gelegen – gemäß Beschluss des Volksgerichtshofs –, er fror jämmerlich in dem kleinen Käfig aus Eisenstangen, der am ehesten einem sehr engen Affenkäfig im Zoo glich –, da tat sich die Tür auf, Licht ging an, und sein Anwalt, Dr. Stark, stand in der Tür des Raumes, in dem der Gitterkäfig aufgebaut war, und sah seinen Mandanten an.
Quangel stand langsam auf und schaute zurück.
Da war dieser geschniegelte und gebügelte Herr also noch einmal zu ihm gekommen, mit seinen rosigen Fingernägeln und der nachlässigen, schleppenden Art zu reden. Wahrscheinlich, um sich den Verbrecher in seiner Qual anzusehen.
Aber auch da schon hatte Quangel die Zyankaliampulle in seinem Munde getragen, diesen Talisman, der ihn Kälte und Hunger ertragen ließ, und so hatte er ruhig, ja, mit einer heiteren Überlegenheit auf den »feinen Herrn« geblickt, er, in seiner Zerlumptheit, vor Frost zitternd, der Magen brennend vor Hunger.
»Nun?«, hatte Quangel schließlich gefragt.
»Ich bringe Ihnen das Urteil«, sagte der Anwalt und zog ein Papier aus der Tasche.
Aber Quangel nahm es nicht. »Es interessiert mich nicht«, sagte er. »Ich weiß ja doch, dass es auf Todesstrafe lautet. Auch meine Frau?«
»Auch Ihre Frau. Und es gibt keine Berufung dagegen.«
»Gut«, antwortete er.
»Aber Sie können ein Gnadengesuch machen«, sagte der Anwalt.
»An den Führer?«
»Ja, an den Führer.«
»Nein, danke.«
»Sie wollen also sterben?«
Quangel lächelte.
»Sie haben keine Angst?«
Quangel lächelte.
Der Anwalt sah zum ersten Mal mit einer Spur von Interesse in das Gesicht seines Mandanten, er sagte: »So werde ich für Sie ein Gnadengesuch einreichen.«
»Nachdem Sie meine Verurteilung gefordert haben!«
»Es ist so üblich, bei jedem Todesurteil wird ein Gnadengesuch eingereicht. Es gehört zu meinen Pflichten.«
»Zu Ihren Pflichten. Ich verstehe. Wie Ihre Verteidigung. Nun, ich nehme an, Ihr Gnadengesuch wird wenig Wirkung haben, lassen Sie es lieber.«
»Ich werde es trotzdem einreichen, auch gegen Ihren Willen.«
»Ich kann Sie nicht hindern.«
Quangel setzte sich wieder auf die Pritsche. Er wartete, dass der andere jetzt mit diesem blöden Gewäsch aufhörte, dass er ginge.
Aber der Anwalt ging nicht, sondern er fragte nach einer langen Pause: »Sagen Sie, warum haben Sie das eigentlich getan?«
»Was getan?«, fragte Quangel gleichgültig, ohne den Gebügelten anzusehen.
»Diese Postkarten geschrieben. Sie haben doch nichts genützt und kosten Ihnen nun das Leben.«
»Weil ich ein dummer Mensch bin. Weil mir nichts Besseres eingefallen ist. Weil ich mit einer anderen Wirkung rechnete. Darum!«
»Und Sie bedauern es nicht? Es tut Ihnen nicht leid, wegen solch einer Dummheit das Leben zu verlieren?«
Ein scharfer Blick traf den Anwalt, der alte, stolze, harte Vogelblick. »Aber ich bin wenigstens anständig geblieben«, sagte er. »Ich habe nicht mitgemacht.«
Der Anwalt sah lange auf den schweigend Dasitzenden. Dann sagte er: »Ich glaube jetzt doch, mein Kollege, der Ihre Frau verteidigte, hat recht gehabt: Sie beide sind wahnsinnig.«
»Nennen Sie es wahnsinnig, dass man jeden Preis dafür bezahlt, anständig zu bleiben?«
»Sie hätten das auch ohne Karten bleiben können.«
»Das wäre schweigende Zustimmung gewesen. Was haben Sie dafür bezahlt, dass Sie so ein feiner Herr geworden sind mit so schön gebügelten Hosen, mit lackierten Fingernägeln und mit verlogenen Verteidigungsreden? Was haben Sie dafür bezahlt?«
Der Anwalt schwieg.
»Da haben Sie es!«, sagte Quangel. »Und Sie werden immer mehr dafür bezahlen, und vielleicht werden Sie eines Tages auch den Kopf dafür lassen müssen, genau wie ich, aber dann lassen Sie ihn für Ihre Unanständigkeit!«
Noch immer schwieg der Anwalt.
Quangel stand auf, er lachte. »Sehen Sie«, lachte er. »Sie wissen gut, dass der hinter den Gitterstäben anständig ist und Sie davor der Lump, dass der Verbrecher frei ist, aber der Anständige zum Tode verurteilt. Sie sind kein Rechtsanwalt, nicht ohne Grund habe ich Sie Linksanwalt genannt. Und Sie wollen ein Gnadengesuch für mich machen – ach, gehen Sie doch!«
»Und ich werde doch ein Gnadengesuch für Sie einreichen«, sagte der Anwalt.
Quangel antwortete nicht.
»Also auf Wiedersehen!«, sagte der Anwalt.
»Kaum – oder Sie sehen bei meiner Hinrichtung zu. Sie sind herzlich eingeladen!«
Der Anwalt ging.
Er war abgebrüht, verhärtet, er war schlecht. Aber er hatte noch so viel Verstand, sich zuzugestehen, dass der andere der bessere Mann war.
Das Gnadengesuch wurde aufgesetzt, Irrsinn war der Anlass, der den Führer zur Gnade bestimmen sollte, aber der Anwalt wusste gut, dass sein Mandant nicht irrsinnig war.
Auch für Anna Quangel wurde ein Gnadengesuch unmittelbar an den Führer eingereicht, aber dieses Gesuch kam nicht aus der Stadt Berlin, es kam aus einem kleinen, armen märkischen Dorf, und unter dem Gesuch stand: Familie Heffke.
Die Eltern von Anna Quangel hatten einen Brief ihrer Schwiegertochter bekommen, von der Frau ihres Sohnes Ulrich. In dem Brief standen nur schlimme Nachrichten, und sie waren ohne Schonung in kurzen, harten Sätzen niedergeschrieben. Der Sohn Ulrich saß wahnsinnig in Wittenau, und Otto und Anna Quangel waren daran schuld. Die aber waren zum Tode verurteilt worden, weil sie ihr Land und ihren Führer verraten