Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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auf. Plötz­lich hat sie sich er­in­nert, dass sie ster­ben muss und wie sie ster­ben muss. Sie hat es ja ge­hört in die­sem Ge­fäng­nis bei ih­ren Fens­ter­ge­sprä­chen, dass es nicht der Gal­gen sein wird, der sie er­war­tet, son­dern das Fall­beil. Sie ha­ben es ihr ger­ne ge­schil­dert, wie man sie auf den Tisch schnal­len wird, auf dem Bau­che lie­gend, wird sie in einen mit Sä­ge­mehl halb­ge­füll­ten Korb star­ren, und auf die­ses Sä­ge­mehl fällt in we­ni­gen Se­kun­den ihr Kopf. Man wird ih­ren Na­cken ent­blö­ßen, und über die­sem Na­cken wird sie die Käl­te des Fall­beils spü­ren, noch ehe es zu stür­zen be­ginnt. Dann wird das Sau­sen im­mer lau­ter wer­den, es wird in ih­ren Ohren dröh­nen wie die Trom­pe­te des Jüngs­ten Ge­richts, und dann wird ihr Kör­per nur ein zu­cken­des Et­was sein, des­sen Hals­stumpf di­cke Strah­len Blut aus­speit, wäh­rend der Kopf im Kor­be viel­leicht nach dem blut­spei­en­den Hal­se glotzt und noch se­hen kann, füh­len kann, lei­den kann …

      So ha­ben sie es ihr er­zählt, und so hat sie es sich vie­le hun­dert Male vor­stel­len müs­sen, und da­von hat sie ge­träumt man­ches Mal, und von all die­sen Schreck­nis­sen kann ein ein­zi­ger Biss auf das Glas­röhr­chen sie be­frei­en! Und das soll sie von sich tun, die­se Er­lö­sung soll sie auf­ge­ben? Sie hat die Wahl zwi­schen ei­nem leich­ten Tod und ei­nem schwe­ren Tod – und sie soll den schwe­ren Tod wäh­len, bloß weil sie Furcht hat, schwach zu wer­den, vor Otto zu ster­ben?

      Sie schüt­telt den Kopf, nein, sie wird nicht schwach wer­den. Sie kann das doch, war­ten bis zur letz­ten Mi­nu­te. Sie will Otto wie­der­se­hen. Sie hat die Angst aus­ge­hal­ten, die sie im­mer er­griff, wenn Otto die Kar­ten ab­leg­te, sie hat den Schreck der Ver­haf­tung aus­ge­hal­ten, sie hat die Quä­le­rei­en des Kom­missars Laub über­stan­den, sie hat Tru­dels Tod ver­wun­den – sie wird doch noch war­ten kön­nen, ein paar Wo­chen, ein paar Mo­na­te! Sie hat al­les er­tra­gen – auch dies wird sie er­tra­gen! Na­tür­lich muss sie das Gift auf­be­wah­ren bis zur letz­ten Mi­nu­te.

      Sie wan­dert auf und ab, auf und ab.

      Aber der eben ge­fass­te Ent­schluss er­leich­tert sie nicht. Von Neu­em be­ginnt der Zwei­fel, und von Neu­em schlägt sie sich mit ihm her­um, und wie­der be­schließt sie, das Gift jetzt, so­fort, auf der Stel­le zu ver­nich­ten, und wie­der tut sie es nicht.

      Dar­über ist es Abend ge­wor­den und Nacht. Man hat die un­ge­ta­ne Ar­beit aus der Zel­le ge­holt, und es ist ihr er­öff­net wor­den, dass ihr we­gen Faul­heit für eine Wo­che die Ma­trat­ze ent­zo­gen und dass sie für eine Wo­che auf Was­ser und Brot ge­setzt wor­den ist. Aber sie hat kaum hin­ge­hört. Was geht das sie an, was die re­den?

      Ihre Abend­sup­pe steht un­an­ge­rührt auf dem Tisch, und noch im­mer läuft sie auf und ab, tod­mü­de, kei­nes kla­ren Ge­dan­kens mehr fä­hig, eine Beu­te des Zwei­fels: Soll ich – soll ich nicht?

      Jetzt spielt ihre Zun­ge mit dem Gift­röhr­chen im Mun­de, ohne dass sie es recht weiß, ohne dass sie es recht will, setzt sie ihre Zäh­ne sanft, sanft auf das Glas auf, ganz vor­sich­tig bei­ßen die Zäh­ne ein we­nig …

      Und has­tig holt sie das Glas aus der Mund­höh­le. Sie wan­dert und pro­biert, sie weiß nicht mehr, was sie tut – und drau­ßen liegt die Tob­ja­cke für sie be­reit …

      Dann plötz­lich, schon tief in der Nacht, ent­deckt sie, dass sie auf ih­rer Holz­prit­sche liegt, auf den har­ten Bret­tern, mit der dün­nen De­cke zu­ge­deckt. Sie zit­tert vor Käl­te am gan­zen Lei­be. Hat sie ge­schla­fen? Ist das Röhr­chen noch da? Hat sie es etwa ver­schluckt? Sie hat es nicht mehr im Mun­de!

      Sie fährt in ir­rer Angst hoch, setzt sich auf – und lä­chelt. Da ist es – in ih­rer Hand. Sie hat es in der hoh­len Hand ge­hal­ten wäh­rend des Schlafs. Sie lä­chelt, noch ein­mal ist sie ge­ret­tet. Nicht den an­de­ren, fürch­ter­li­chen Tod muss sie ster­ben …

      Und wäh­rend sie da so frie­rend sitzt, denkt sie dar­an, dass sie von heut an je­den Tag, der wer­den wird, die­sen schreck­li­chen Kampf kämp­fen muss zwi­schen Wil­len und Schwä­che, Feig­heit und Mut. Und wie un­ge­wiss der Aus­gang die­ses Kamp­fes ist …

      Und durch Zwei­fel und Verzweif­lung hört sie eine sanf­te, gü­ti­ge Stim­me: Nicht ban­ge sein, Kind, bloß nicht ban­ge sein …

      Plötz­lich weiß Frau Anna Quan­gel: Jetzt wer­de ich mich ent­schlie­ßen! Jetzt habe ich die Kraft!

      Sie schleicht zur Tür, sie lauscht hin­aus auf den Gang. Der Schritt der Auf­se­he­rin nä­hert sich. Sie stellt sich an die Wand ge­gen­über, be­ginnt dann, als sie merkt, sie wird durch den Spi­on be­ob­ach­tet, lang­sam auf und ab zu ge­hen. Nicht ban­ge sein, Kind …

      Erst als sie ganz si­cher ist, die Auf­se­he­rin ist wei­ter­ge­gan­gen, klet­tert sie am Fens­ter hoch. Eine Stim­me fragt: »Bist du das, 76? Hast du heu­te Be­such ge­habt?«

      Sie ant­wor­tet nicht. Sie wird nie mehr ant­wor­ten. Mit der einen Hand hält sie sich an der Fens­ter­blen­de, die an­de­re streckt sie hin­aus, zwi­schen den Fin­gern das Röhr­chen. Sie drückt es ge­gen die Stein­wand, sie fühlt, der dün­ne Hals bricht ab. Sie lässt das Gift in die Tie­fe des Ho­fes fal­len.

      Als sie wie­der in der Zel­le ist, riecht sie an ih­ren Fin­gern: sie rie­chen stark nach bit­te­ren Man­deln. Sie wäscht sich die Hän­de, sie legt sich auf das Bett. Sie ist tod­mü­de, ihr ist, als sei sie ei­ner schwe­ren Ge­fahr ent­ron­nen. Sie schläft rasch ein. Sie schläft sehr tief und traum­los. Sie wacht er­frischt auf.

      Von die­ser Nacht an gab 76 kei­nen An­lass mehr zu Ta­del. Sie war ru­hig, hei­ter, flei­ßig, freund­lich.

      Sie dach­te kaum noch an ih­ren schwe­ren Tod, sie dach­te nur noch dar­an, dass sie Otto Ehre ma­chen muss­te. Und manch­mal, in trü­ben Stun­den, hör­te sie wie­der die Stim­me des al­ten Kam­mer­ge­richts­rats Fromm: Nicht ban­ge sein, Kind, bloß nicht ban­ge sein.

      Sie war es nicht. Nie mehr.

      Sie hat­te es über­wun­den.

      70. Es ist so weit, Quangel

      Es ist noch Nacht, als ein Auf­se­her die Tür zu Otto Quan­gels Zel­le auf­schließt.

      Quan­gel, aus tie­fem Schlaf er­wacht, sieht blin­zelnd auf die große, schwar­ze Ge­stalt, die in sei­ne Zel­le ge­tre­ten ist. Im nächs­ten Au­gen­blick ist er hell­wach, und sein Herz klopft schnel­ler als sonst, denn er hat be­grif­fen, was die­se große, dort schwei­gend un­ter der Tür ste­hen­de Ge­stalt be­deu­tet.

      »Ist es so weit, Herr Pas­tor?«, fragt er und greift schon nach sei­nen Klei­dern.

      »Es ist so weit, Quan­gel!«, ant­wor­tet der Geist­li­che. Und fragt: »Füh­len Sie sich be­reit?«

      »Ich bin jede Stun­de be­reit«, ant­wor­tet Quan­gel, und sei­ne Zun­ge be­rührt das Röhr­chen in sei­nem Mun­de.

      Er fängt an, sich an­zu­klei­den. Alle sei­ne Grif­fe ge­sche­hen ru­hig, ohne Hast.

      Ei­nen Au­gen­blick mus­tern sich die bei­den schwei­gend. Der Pas­tor ist ein noch jun­ger, grob­kno­chi­ger Mann, mit ei­nem ein­fa­chen, viel­leicht et­was tö­rich­ten Ge­sicht.

      Nicht viel los mit dem, ent­schei­det Quan­gel. Kein Mann wie der gute Pas­tor.

      Der Pas­tor wie­der sieht vor sich einen lan­gen, ver­ar­bei­te­ten Mann. Das Ge­sicht mit dem schar­fen, vo­gel­haf­ten Pro­fil miss­fällt ihm, der mus­tern­de Blick des dun­keln, merk­wür­dig