Wachen packten Quangel fest bei den Armen.
Er machte sich unwillig los.
Sie packten ihn noch fester an.
»Lassen Sie den Mann allein gehen!«, befahl der Direktor. »Der wird schon keine Schwierigkeiten machen.«
Sie traten auf den Gang hinaus. Dort standen eine Menge Leute, Uniformierte und Zivilisten. Plötzlich hatte sich ein Zug gebildet, dessen Mittelpunkt Otto Quangel war. An der Spitze gingen Wachtmeister. Dann folgte der Pastor, der jetzt einen Talar mit weißem Kragen trug und irgendetwas Unverständliches vor sich hin betete. Hinter ihm ging Quangel, in eine ganze Traube von Aufsehern gehüllt, aber der kleine Arzt im hellen Anzug hielt sich dicht bei ihm. Dahinter folgten der Direktor und der Ankläger, denen wieder Zivilisten und Uniformierte nachgingen, die Zivilisten zum Teil mit Fotoapparaten bewaffnet.
So bewegte sich der Zug über Korridore, die schlecht beleuchtet waren, über eiserne Treppen, deren Linoleumbelag schlüpfrig war, durch das Totenhaus. Und wo er vorbeikam, schien ein Stöhnen in den Zellen laut zu werden, ein verhaltenes Ächzen aus tiefster Brust. Plötzlich rief eine Stimme aus einer Zelle sehr laut: »Lebe wohl, Genosse!«
Und ganz mechanisch antwortete Otto Quangel laut: »Lebe wohl, Genosse!« Erst einen Augenblick später fiel ihm ein, wie widersinnig dieses »Lebewohl« an einen Sterbenden gewesen war.
Jetzt wurde eine Tür aufgeschlossen, und sie traten auf den Hof hinaus. Noch hing das nächtliche Dunkel zwischen den Mauern. Quangel sah rasch rechts und links, seiner überwachen Aufmerksamkeit entging nichts. Er sah an den Fenstern des Zellengefängnisses das Rund vieler bleicher Gesichter, die Kameraden, die, gleich ihm zum Tode verurteilt, noch lebten. Ein Schäferhund fuhr laut bellend dem Zuge entgegen, wurde von dem Posten zurückgepfiffen und zog sich knurrend zurück. Der Kies knirschte unter den vielen Füßen, es sah aus, als müsse er bei Tageslicht leicht gelblich aussehen, jetzt, im Schein der elektrischen Lampen, wirkte er weißlichgrau. Über die Mauer sah schattenhaft der Umriss eines entblätterten Baumes. Die Luft war fröstelig und feucht. Quangel dachte: In einer Viertelstunde werde ich nicht mehr frieren – komisch!
Seine Zunge tastete nach der Glasampulle. Aber es war noch zu früh …
Seltsam, so deutlich er alles sah und hörte, was um ihn vorging, bis auf die geringste Kleinigkeit, so unwirklich schien ihm doch alles. Dies war ihm einmal erzählt worden. Er lag in seiner Zelle und träumte davon. Ja, es war ganz unmöglich, dass er hier körperlich wandelte, und sie alle, die hier mit ihm gingen, mit ihren gleichgültigen oder rohen oder gierigen oder traurigen Gesichtern, sie alle waren nichts Körperliches. Der Kies war kaum Kies, und das Scharren der Füße, das Knirschen der Steinchen unter den Sohlen – das waren Traumgeräusche …
Sie traten durch eine Tür und kamen in einen Raum, der so grell beleuchtet war, dass Quangel zuerst nichts sah. Seine Begleiter rissen ihn plötzlich nach vorn, an dem niederknienden Geistlichen vorbei.
Der Scharfrichter kam mit seinen beiden Gehilfen auf ihn zu. Er streckte ihm die Hand hin.
»Also, nimm mir’s nicht übel!«, sagte er.
»Nee, zu was denn?«, antwortete Quangel und nahm mechanisch die Hand.
Während der Scharfrichter Quangel die Jacke auszog und den Kragen seines Hemdes abschnitt, sah Quangel zurück auf die, die ihn begleitet hatten. Er sah in der blendenden Helle nur einen Kranz weißer Gesichter, die alle ihm zugewandt waren.
Ich träume das, dachte er, und sein Herz begann stärker zu klopfen.
Aus dem Zuschauerraum löste sich eine Gestalt, und als sie näher kam, erkannte Quangel den kleinen, hilfsbereiten Arzt im hellgrauen Anzug.
»Nun?«, fragte der Arzt mit einem matten Lächeln. »Wie geht es uns?«
»Immer ruhig!«, sagte Quangel, während ihm die Hände auf dem Rücken gebunden wurden. »Im Augenblick habe ich ziemliches Herzklopfen, aber ich nehme an, das wird sich in den nächsten fünf Minuten geben.«
Und er lächelte.
»Warten Sie, ich gebe Ihnen was!«, sagte der Arzt und griff in seine Tasche.
»Machen Sie sich keine Mühe, Herr Doktor«, antwortete Quangel. »Ich bin gut versorgt …«
Und für einen Augenblick zeigte die Zunge zwischen den dünnen Lippen die Glasampulle …
»Ja, dann!«, meinte der Arzt und sah verwirrt aus.
Sie drehten Quangel um. Jetzt sah er vor sich den langen Tisch, der mit einem glatten, stumpfen, schwarzen Überzug bedeckt war, wie Wachstuch. Er sah Riemen, Schnallen, aber vor allem sah er das Messer, das breite Messer. Es schien ihm sehr hoch über dem Kopf zu hängen, drohend hoch. Es blinkte grausilbern, es sah ihn tückisch an.
Quangel seufzte leicht …
Plötzlich stand der Direktor neben ihm und sprach mit dem Scharfrichter einige Worte. Quangel sah unverwandt auf das Messer. Er hörte nur halb hin: »Ich übergebe Ihnen als dem Scharfrichter der Stadt Berlin diesen Otto Quangel, dass Sie ihn mit dem Fallbeil vom Leben zum Tode bringen, wie es angeordnet ist durch rechtskräftiges Urteil des Volksgerichtshofes …«
Die Stimme schallte unerträglich laut. Das Licht war zu hell …
Jetzt, dachte Quangel. Jetzt …
Aber er tat es nicht. Eine fürchterliche, peinigende Neugier kitzelte ihn …
Nur noch ein paar Minuten, dachte er. Ich muss noch wissen, wie es auf diesem Tisch ist …
»Nun mal los, alter Junge!«, mahnte der Scharfrichter. »Mach jetzt keine langen Geschichten. In zwei Minuten hast du es ausgestanden. Hast du übrigens an die Haare gedacht?«
»Liegen an der Tür«, antwortete Quangel.
Einen Augenblick später lag Quangel auf dem Tisch, er fühlte, wie sie seine Füße festschnallten. Ein stählerner Bügel senkte sich auf seinen Rücken und presste seine Schultern fest gegen die Unterlage …
Es stank nach Kalk, nach feuchtem Sägemehl, es stank nach Desinfektionsmitteln … Aber vor allem stank es, alles andere übertäubend, widerlich süß nach etwas, nach etwas …
Blut …, dachte Quangel. Es stinkt nach Blut …
Er hörte, wie der Scharfrichter leise flüsterte: »Jetzt!«
Aber so leise er auch flüsterte, so leise konnte kein Mensch flüstern, Quangel hörte es doch, dieses »Jetzt!«
Er hörte auch ein surrendes Geräusch …