Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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Glück und Stolz … Und die­ser Gruß von ihm, die­ser Gruß zwi­schen den Ei­sen- und Stein­zel­len, die­ser Früh­ling zwi­schen Mau­ern! O herr­lich, herr­lich, ein herr­li­ches Le­ben!

      »Sie se­hen aber nicht gut aus, Frau Quan­gel«, sagt der alte Rat.

      »Ja?«, fragt sie, ein we­nig ver­wun­dert, geis­tes­ab­we­send. »Aber mir geht es gut. Sehr gut. Sa­gen Sie das Otto. Bit­te, sa­gen Sie es ihm! Ver­ges­sen Sie nicht, ihn von mir zu grü­ßen. Sie wer­den ihn doch se­hen?«

      »Ich den­ke, ja«, ant­wor­tet er zö­gernd. Er ist so pe­ni­bel, der klei­ne, or­dent­li­che Herr. Die kleins­te Un­wahr­heit die­ser Ster­ben­den ge­gen­über wi­der­strebt ihm. Sie ahnt es ja nicht, wel­che Lis­ten er hat auf­wen­den, wel­cher Int­ri­gen er hat an­zet­teln müs­sen, um die­se Be­suchs­er­laub­nis zu er­hal­ten! Dass er sei­ne sämt­li­chen Be­zie­hun­gen hat ein­span­nen müs­sen! Für die Welt ist Anna Quan­gel ja tot – kann man denn Tote be­su­chen?

      Aber er wagt ihr nicht zu sa­gen, dass er Otto Quan­gel in die­sem Le­ben nie wie­der­se­hen wird, dass er nichts von ihm ge­hört hat, dass er eben ge­lo­gen hat mit sei­nem Gruß, um die­ser völ­lig ver­fal­le­nen Frau doch ein we­nig Mut zu ge­ben. Manch­mal muss man eben auch Ster­ben­de be­lü­gen.

      »Ach!«, sagt sie plötz­lich ganz leb­haft, und – sie­he! – ihre blas­sen, ein­ge­fal­le­nen Wan­gen rö­ten sich. »Sa­gen Sie Otto doch, wenn Sie ihn se­hen, dass ich alle Tage, dass ich jede Stun­de an ihn den­ke und dass ich be­stimmt weiß, ich wer­de ihn noch se­hen, ehe ich st­er­be …«

      Der Auf­se­her sieht einen Au­gen­blick ver­wirrt auf die al­tern­de Frau, die hier spricht wie ein jun­ges, ver­lieb­tes Mäd­chen. Al­tes Stroh brennt am hells­ten!, denkt er und geht wie­der ans Fens­ter.

      Sie hat nichts da­von ge­merkt, sie fährt fie­ber­haft fort: »Und sa­gen Sie Otto doch auch, dass ich eine schö­ne Zel­le habe für mich ganz al­lein. Es geht mir gut. Ich den­ke im­mer an ihn, und so bin ich glück­lich. Ich weiß, dass uns nie et­was tren­nen kann, nicht Mau­ern, nicht Git­ter. Ich bin bei ihm, jede Stun­de bei Tag und bei Nacht. Sa­gen Sie ihm das!«

      Sie lügt, oh, wie sie lügt, um ih­rem Otto nur et­was Gu­tes zu sa­gen! Sie will ihm Ruhe ge­ben, die Ruhe, die sie nicht eine Stun­de ge­habt hat, seit sie in die­sem Hau­se ist.

      Der Kam­mer­ge­richts­rat schielt zu dem Auf­se­her hin­über, der aus dem Fens­ter starrt, er flüs­tert: »Ver­lie­ren Sie nicht, was ich Ih­nen ge­ge­ben habe!«, denn Frau Quan­gel sieht aus, als habe sie die gan­ze Welt ver­ges­sen.

      »Nein, ich ver­lie­re nichts, Herr Rat.« Und plötz­lich lei­se: »Was ist es?«

      Und er noch lei­ser: »Gift, Ihr Mann hat es auch.«

      Sie nickt.

      Der Be­am­te am Fens­ter dreht sich um. Er sagt mah­nend: »Hier darf nur laut ge­spro­chen wer­den, sonst ist gleich Schluss. Üb­ri­gens«, er be­fragt sei­ne Uhr, »ist die Be­suchs­zeit so­wie­so in an­dert­halb Mi­nu­ten um.«

      »Ja«, sagt sie nach­denk­lich. »Ja«, und plötz­lich weiß sie, wie sie es sa­gen soll. Sie fragt: »Und glau­ben Sie, dass Otto bald ver­rei­sen wird – vor sei­ner großen Rei­se noch? Glau­ben Sie das?«

      Ihr Ge­sicht drückt jetzt so sehr schmerz­li­che Un­ru­he aus, dass selbst der stump­fe Be­am­te merkt, es geht hier um ganz an­de­re Din­ge, als ge­spro­chen wird. Ei­nen Au­gen­blick will er ein­schrei­ten, aber dann sieht er die­se al­tern­de Frau an und die­sen Herrn mit dem wei­ßen Spitz­bart, der laut Be­suchs­schein Kam­mer­ge­richts­rat ist – der Be­am­te hat eine groß­mü­ti­ge An­wand­lung und sieht wie­der aus dem Fens­ter.

      »Ja, das ist schwer zu sa­gen«, ant­wor­tet der Rat vor­sich­tig. »Mit dem Rei­sen ist es ja jetzt auch schwie­rig.« Und ganz rasch, flüs­ternd: »War­ten Sie bis zur al­ler­letz­ten Mi­nu­te, viel­leicht se­hen Sie ihn noch vor­her. Ja?«

      Sie nickt, sie nickt wie­der.

      »Ja«, ant­wor­tet sie laut. »So ist es wohl das Al­ler­bes­te.«

      Und dann ste­hen sich die bei­den stumm ge­gen­über, plötz­lich füh­len sie, sie ha­ben sich nichts mehr zu sa­gen. Zu Ende. Vor­bei.

      »Ja, ich glau­be, ich muss dann ge­hen«, sagt der alte Rat.

      »Ja«, flüs­tert sie zu­rück, »ich glau­be, es wird Zeit.«

      Und plötz­lich – der Auf­se­her hat sich schon um­ge­wen­det und sieht, mit der Uhr in der Hand, auf­for­dernd die bei­den an – über­kommt es Frau Quan­gel. Sie presst den Kör­per ge­gen das Git­ter, sie flüs­tert, den Kopf an den Git­ter­stä­ben: »Bit­te, bit­te – Sie sind viel­leicht der letz­te an­stän­di­ge Mensch auf der Welt, den ich zu se­hen be­kom­me. Bit­te, Herr Rat, ge­ben Sie mir einen Kuss! Ich wer­de die Au­gen zu­ma­chen, ich wer­de glau­ben, es ist Otto …«

      Manns­toll!, denkt der Auf­se­her. Soll hin­ge­rich­tet wer­den und noch im­mer manns­toll! Und so ein ol­ler …

      Aber der alte Rat sagt mit sanf­ter, freund­li­cher Stim­me: »Nicht ban­ge sein, Kind, nicht ban­ge sein …«

      Und sei­ne al­ten, dün­nen Lip­pen be­rüh­ren sanft ih­ren tro­ckenen, ris­si­gen Mund.

      »Nicht ban­ge sein, Kind. Sie ha­ben den Frie­den bei sich …«

      »Ich weiß«, flüs­tert sie. »Ich dan­ke Ih­nen sehr, Herr Rat.«

      Dann ist sie wie­der in ih­rer Zel­le, die Bind­fä­den lie­gen un­or­dent­lich am Bo­den, und sie geht hin und her, sie un­ge­dul­dig mit den Fü­ßen in die Ecken sto­ßend, wie in ih­ren schlimms­ten Ta­gen. Sie hat den Zet­tel ge­le­sen, sie hat ihn ver­stan­den. Sie weiß nun, Otto wie sie ha­ben eine Waf­fe, sie kön­nen je­der­zeit die­ses jam­mer­vol­le Le­ben von sich wer­fen, wenn es gar zu un­er­träg­lich wird. Sie braucht sich nicht mehr quä­len zu las­sen, sie kann jetzt, in die­ser Mi­nu­te, da noch ein biss­chen Glück von dem Be­such in ihr ist, ein Ende ma­chen.

      Sie wan­dert, sie re­det mit sich, sie lacht, sie weint.

      An der Tür lau­schen sie. Sie sa­gen: »Jetzt fängt sie rich­tig an zu spin­nen. Ist die Tob­ja­cke be­reit?«

      Die Frau drin­nen merkt nichts da­von, sie kämpft ih­ren schwers­ten Kampf. Sie sieht den al­ten Rat Fromm wie­der vor sich, sein Ge­sicht war so ernst, als er sag­te, sie möge bis zur al­ler­letz­ten Mi­nu­te war­ten, viel­leicht be­kom­me sie ih­ren Mann doch noch ein­mal zu se­hen.

      Und sie hat ihm zu­ge­stimmt. Na­tür­lich ist es das Rich­ti­ge, sie muss war­ten, Ge­duld üben, viel­leicht dau­ert es noch Mo­na­te. Aber sei­en es auch nur noch Wo­chen, es ist so schwer, jetzt noch zu war­ten. Sie kennt sich doch, wie­der wird sie ver­zwei­feln, lan­ge wei­nen, in Trüb­sinn ver­fal­len, alle sind so hart mit ihr, nie ein gu­tes Wort, nie ein Lä­cheln. Die Zeit wird kaum zu er­tra­gen sein. Sie braucht nur ein biss­chen zu spie­len, mit der Zun­ge und mit den Zäh­nen, es braucht ja noch gar nicht Ernst zu sein, nur so ein biss­chen pro­bie­ren, und schon ist es ge­sche­hen. Es ist ihr jetzt so leicht ge­macht – es ist ihr zu leicht ge­macht!

      Das ist es. In ir­gend­ei­ner Stun­de wird sie schwach sein, sie wird es tun, und in dem Au­gen­blick, da sie es ge­tan hat, in dem ganz klei­nen Au­gen­blick zwi­schen Tat und Tod wird sie es be­reu­en, wie sie nie et­was im Le­ben be­reut hat: sie hat sich der Aus­sicht be­raubt, ihn noch ein­mal wie­der­zu­se­hen, weil sie fei­ge und schwach war. Man