Hinrichtungstag, dann werde ich mich willig fügen, nur heute noch nicht! Und sie bitten, sie beten, sie betteln.
Eine Uhr schlägt vier. Schritte, Schlüsselgeklapper, Murmeln. Die Schritte nähern sich. Das Herz fängt an zu pochen, Schweiß bricht aus über den ganzen Körper. Plötzlich klirrt ein Schlüssel im Schloss. Still doch, still doch, es ist ja die Zelle nebenan, die aufgeschlossen wurde, nein, noch eine weiter! Du bist noch nicht dran. Ein rasch ersticktes: Nein! Nein! Hilfe! Scharren von Füßen. Stille. Der regelmäßige Schritt des Postens. Stille. Warten. Angstvolles Warten. Ich ertrage das nicht …
Und nach einer endlosen Frist, nach einem Abgrund voller Angst, nach einer unerträglichen Wartezeit, die doch ertragen werden muss, nähert sich wieder das Murmeln, das Geräusch vieler Füße, das Schlüsselgeklapper … Es kommt näher, nahe, nahe. O Gott, heute noch nicht, nur noch die drei Tage! Ruckzuck! Schlüssel im Schloss – bei mir? Oh, bei dir! Nein, es ist die Nachbarzelle, ein paar gemurmelte Worte, sie holen also den Nachbarn. Sie holen ihn, die Schritte entfernen sich …
Zeit zerbricht langsam, wenig Zeit zerbröckelt langsam in unendlich viele kleine Stücke. Warten. Nichts wie Warten. Und der Schritt der Wachen auf dem Gang. O Gott, heute nehmen sie einfach Zelle neben Zelle, als Nächster kommst du dran. Als – Nächster – kommst – du – dran! In drei Stunden wirst du eine Leiche sein, dieser Körper ist tot, diese Beine, die dich jetzt noch tragen, tote Stecken, diese Hand, die gearbeitet, gestreichelt, gekost und gesündigt hat, wird nichts mehr sein wie ein verdorbenes Stück Fleisch! Es ist unmöglich, und doch ist es wahr!
Warten – warten – warten! Und plötzlich sieht der Wartende, dass durch sein Fenster der Tag dämmert, er hört eine Glocke zum Aufstehen rufen. Der Tag ist gekommen, ein neuer Arbeitstag – und er ist noch einmal verschont geblieben. Er hat noch drei Tage Frist, vier Tage Frist, wenn es ein Donnerstag ist. Das Glück hat ihm gelächelt! Er atmet leichter, endlich kann er leichter atmen, vielleicht verschonen sie ihn ganz. Vielleicht kommt ein großer Sieg und damit eine Amnestie, vielleicht wird er zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt werden!
Eine Stunde leichteres Atmen!
Und schon setzt die Angst neu ein, vergiftet diese drei, vier Tage: Sie haben diesmal grade bei deiner Zelle Schluss gemacht, am Montag werden sie mit mir beginnen. Oh, was tu ich nur? Ich kann doch noch nicht …
Und immer von Neuem, immer von Neuem, zweimal die Woche, alle Tage die Woche, jede Sekunde die Angst!
Und Monat um Monat: Todesangst!
Manchmal fragte sich Otto Quangel, woher er alles dieses wusste. Er sprach doch eigentlich nie mit jemandem, und eigentlich sprach nie jemand mit ihm. Einige dürre Worte des Aufsehers: »Mitkommen! Aufstehen! Schneller arbeiten!« Vielleicht gerade noch beim Essenabfüllen ein mehr mit den Lippen gebildetes als gehauchtes Wort: »Heute sieben Hinrichtungen«, das war alles.
Aber seine Sinne waren so unendlich scharf geworden. Sie errieten, was er nicht sah. Seine Ohren hörten jedes Geräusch auf dem Gang, ein Gesprächsfetzen der sich ablösenden Posten, ein Fluch, ein Schrei – alles enthüllte sich ihm, nichts blieb ihm verborgen. Und dann in den Nächten, in den langen Nächten, die nach der Hausordnung dreizehn Stunden dauerten, die aber nie Nächte waren, weil in seiner Zelle stets Licht brennen musste, dann wagte er es manchmal: er kletterte zum Fenster hinauf, er lauschte in die Nacht. Er wusste, die Posten unten auf dem Hof mit ihren ewig bellenden Hunden hatten den Befehl, auf jedes Gesicht im Fenster zu schießen, und nicht selten fiel auch einmal ein Schuss – aber er wagte es trotzdem.
Er stand da auf seinem Schemel, er spürte die reine Nachtluft (schon diese Luft war belohnend für jede Gefahr), und dann hörte er dies Flüstern von Fenster zu Fenster, sinnlose Worte zuerst: »Den Karl hat’s mal wieder!« Oder: »Die Frau von 347 hat heute den ganzen Tag unten gestanden«, aber mit der Zeit konnte er sich auf alles einen Vers machen. Mit der Zeit wusste er, dass in der Zelle neben ihm ein Mann von der Spionageabwehr saß, der sich dem Feinde verkauft haben sollte und der schon zweimal versucht haben sollte, sich umzubringen. Und in der Zelle hinter ihm saß ein Arbeiter, der hatte in einem Elektrizitätswerk die Dynamos verschmoren lassen, ein Kommunist. Und der Aufseher Brennecke besorgte Papier und Bleistiftstummel und schmuggelte auch Briefe aus dem Bau, wenn er von außen geschmiert wurde, mit sehr viel Geld oder besser noch mit Lebensmitteln. Und … und … Nachrichten über Nachrichten. Auch ein Totenhaus spricht, atmet, lebt, auch in einem Totenhaus erlischt nicht das unbezwingliche Bedürfnis der Menschen, sich mitzuteilen.
Aber wenn auch Otto Quangel sein Leben – manchmal – wagte, um zu lauschen, wenn seine Sinne auch nie müde wurden, auf jede Veränderung zu achten, so ganz gehörte Quangel nicht zu den anderen. Manchmal ahnten sie, dass auch er am nächtlichen Fenster stand, einer flüsterte: »Na, wie ist’s denn mit dir, Otto? Gnadengesuch schon zurück?« (Sie wussten alles über ihn.) Aber nie antwortete er mit einem Wort, nie gab er zu, dass auch er lauschte. Er gehörte nicht zu ihnen, wenn auch das gleiche Urteil über ihn verhängt war, er war ein ganz anderer.
Und dass er ein ganz anderer war als sie, das machte nicht sein Einzelgängertum, wie es früher gewesen, das machte nicht sein Bedürfnis nach Ruhe, das ihn bisher von allen getrennt hatte, das kam nicht von seiner Abneigung gegen Reden, die früher seine Zunge schweigsam gemacht – sondern das machte jenes kleine Glasröhrchen, das ihm der Kammergerichtsrat Fromm gegeben.
Dieses Röhrchen mit der wasserhellen Blausäurelösung hatte ihn frei gemacht. Die anderen, seine Leidensgefährten, sie mussten den letzten bitteren Weg gehen; er hatte die Wahl. Er konnte in jeder Minute sterben, er musste es nur wollen. Er war frei. Er war, im Totenhaus, hinter Gittern und Mauern, er war, gehalten mit Ketten und Schellen – er, Otto Quangel, Tischlermeister a.D., Werkmeister a.D., Ehegatte a.D., Vater a.D., Aufrührer a.D. – er war frei geworden. Das hatten sie bewirkt, sie hatten ihn frei gemacht, wie er es nie in seinem Leben gewesen war. Er, der Besitzer dieses Glasröhrchens, fürchtete den Tod nicht. Der Tod war zu jeder Stunde bei ihm, er war sein Freund. Er, Otto Quangel, brauchte an den Montagen und den Donnerstagen nicht lange vor der Zeit zu erwachen und angstvoll an der Türe lauschen. Er gehörte nicht zu ihnen, nicht ganz. Er musste sich nicht quälen, weil er das Ende aller Qual bei sich hatte.
Es war ein gutes Leben, das er führte. Er liebte es. Er war nicht einmal ganz sicher, dass er diese Glasampulle je gebrauchen würde. Vielleicht war es noch besser, bis zur letzten Minute zu warten? Vielleicht durfte er Anna doch noch einmal sehen? War es nicht richtiger, denen keine Schande zu ersparen?
Sie sollten ihn hinrichten, besser, viel besser! Er wollte es wissen, wie es dabei zuging – ihm war, als