Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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müs­sen, Ul­rich, der Vor­ar­bei­ter in ei­ner op­ti­schen Fa­brik, und Anna, die Frau ei­nes Tisch­ler­meis­ters. Dass sie kaum schrie­ben, sich nicht se­hen lie­ßen, das stör­te die Al­ten kaum, das war die Art al­ler Vö­gel, die flüg­ge ge­wor­den sind. Wuss­ten sie doch, es ging den Kin­dern gut.

      Und nun die­ser Schlag, die­ser er­bar­mungs­lo­se Schlag! Nach ei­ner Wei­le streckt sich die ver­ar­bei­te­te, dür­re Hand des al­ten Land­ar­bei­ters über den Tisch: »Mut­ter!«

      Und plötz­lich stür­zen bei der Grei­sin die Trä­nen: »Ach, Va­ter! Un­se­re Anna! Un­ser Ul­rich! Nun sol­len sie un­sern Füh­rer ver­ra­ten ha­ben! Ich kann es nicht glau­ben, nie und nie!«

      Drei Tage wa­ren sie so ver­wirrt, dass sie kei­nen Ent­schluss fas­sen konn­ten. Sie trau­ten sich nicht aus dem Hau­se, sie wag­ten nicht, je­man­dem ins Auge zu bli­cken, aus Furcht, die Schan­de kön­ne schon be­kannt ge­wor­den sein.

      Dann, am vier­ten Tag, ba­ten Sie eine Haus­nach­ba­rin, ihr biss­chen Klein­vieh zu ver­sor­gen, und mach­ten sich auf den Weg nach der Stadt Ber­lin. Wie sie da die wind­ge­peitsch­te Chaus­see ent­lang­wan­der­ten, nach länd­li­cher Ge­wohn­heit der Mann vor­an, die Frau einen Schritt hin­ter­drein, gli­chen sie Kin­dern, die sich in der wei­ten Welt ver­irrt ha­ben, für die al­les zur Dro­hung wird: ein Wind­stoß, ein her­ab­fal­len­der dür­rer Ast, ein vor­über­fah­ren­des Auto, ein rau­es Wort. Sie wa­ren so völ­lig wehr­los.

      Nach zwei Ta­gen wan­der­ten sie die glei­che Chaus­see zu­rück, noch klei­ner, noch ge­beug­ter, noch trost­lo­ser.

      Sie hat­ten nichts er­reicht in Ber­lin. Die Schwie­ger­toch­ter hat­te sie nur mit Schmä­hun­gen über­häuft. Sie hat­ten den Sohn Ul­rich nicht se­hen dür­fen, weil kei­ne »Be­suchs­zeit« war. Die Anna und ihr Mann – kein Mensch konn­te ih­nen ge­nau sa­gen, in wel­chem Ge­fäng­nis sie la­gen. Sie hat­ten die Kin­der nicht ge­fun­den. Und der Füh­rer, der ge­lieb­te Füh­rer, von dem sie sich Hil­fe und Trost er­war­te­ten, des­sen Kanz­lei sie wirk­lich ge­fun­den hat­ten, der Füh­rer war nicht in Ber­lin ge­we­sen. Er war im Gro­ßen Haupt­quar­tier, da­mit be­schäf­tigt, Söh­ne um­zu­brin­gen, er hat­te kei­ne Zeit, El­tern zu hel­fen, die im Be­griff stan­den, ihre Kin­der zu ver­lie­ren.

      Sie soll­ten nur ein Ge­such ma­chen, war ih­nen ge­sagt wor­den.

      Sie wag­ten sich nie­man­dem an­zu­ver­trau­en. Sie fürch­te­ten sich vor der Schan­de. Sie, Par­tei­mit­glie­der seit vie­len Jah­ren, hat­ten eine Toch­ter, die den Füh­rer ver­ra­ten hat­te. Sie hät­ten hier nicht mehr le­ben kön­nen, wenn das be­kannt wur­de. Und sie muss­ten doch le­ben, um die Anna zu ret­ten. Nein, von kei­nem konn­ten sie sich bei die­sem Gna­den­ge­such hel­fen las­sen, nicht vom Leh­rer, nicht vom Bür­ger­meis­ter, selbst vom Pas­tor nicht.

      Und müh­sam, in stun­den­lan­gen Ge­sprä­chen, Über­le­gun­gen, Schrei­ben mit zit­tern­der Hand brach­ten sie ein Gna­den­ge­such zu­stan­de. Es wur­de ge­schrie­ben und wie­der ab­ge­schrie­ben und noch ein­mal ins Rei­ne ge­schrie­ben und fing so an:

      »Mein in­nig­ge­lieb­ter Füh­rer!

      Eine ver­zwei­fel­te Mut­ter bit­tet Dich auf den Kni­en um das Le­ben ih­rer Toch­ter. Sie hat sich schwer an Dir ver­gan­gen, aber Du bist so groß, Du wirst Dei­ne Gna­de an ihr wal­ten las­sen. Du wirst ihr ver­zei­hen …«

      Hit­ler, der zum Gott ge­wor­den ist, Herr des Wel­talls, all­mäch­tig, all­gü­tig, all­ver­zei­hend! Zwei alte Men­schen – drau­ßen rast der Krieg und mor­det Mil­lio­nen, sie glau­ben an ihn, noch da er ihre Toch­ter dem Hen­ker über­ant­wor­tet, glau­ben sie an ihn, kein Zwei­fel schleicht in ihr Herz, eher ist ihre Toch­ter schlecht als Gott der Füh­rer!

      Sie wa­gen nicht, den Brief im Dorf ab­zu­sen­den, ge­mein­sam wan­dern sie zur Kreis­stadt, um ihn dort zur Post zu ge­ben. Als Adres­se steht auf ihm: »An die ei­ge­ne Per­son un­se­res in­nig ge­lieb­ten Füh­rers …«

      Dann keh­ren sie heim in ihre Stu­be und war­ten gläu­big, dass ihr Gott gnä­dig ist …

      Er wird gnä­dig sein!

      Die Post nimmt das ver­lo­ge­ne Ge­such des An­walts wie das hilflo­se von zwei trau­ern­den El­tern und be­för­dert bei­de, aber sie bringt sie nicht zum Füh­rer. Der Füh­rer will sol­che Ge­su­che nicht se­hen, sie in­ter­es­sie­ren ihn nicht. Ihn in­ter­es­sie­ren Krieg, Zer­stö­rung, Mord, nicht die Ab­wen­dung des Mor­des. Die Ge­su­che wan­dern in die Kanz­lei des Füh­rers, sie be­kom­men eine Num­mer, sie wer­den re­gis­triert, und dann wird ein Stem­pel auf sie ge­drückt: An den Herrn Reichs­jus­tiz­mi­nis­ter wei­ter­ge­lei­tet. Zu­rück nur hier­her, falls Ver­ur­teil­ter Par­tei­mit­glied ist, was aus dem Gna­den­ge­such nicht er­sicht­lich … (Die zwei­ge­teil­te Gna­de, die Gna­de für Par­t­ei­ge­nos­sen und die Gna­de für Volks­ge­nos­sen.)

      Auf dem Reichs­jus­tiz­mi­nis­te­ri­um wer­den die Ge­su­che wie­der­um re­gis­triert und be­zif­fert, sie be­kom­men einen wei­te­ren Stem­pel: An die Ge­fäng­nis­ver­wal­tung zur Stel­lung­nah­me.

      Die Post be­för­dert die Ge­su­che ein drit­tes Mal, und ein drit­tes Mal be­kom­men sie Num­mern und wer­den in ein Buch ein­ge­tra­gen. Eine Schrei­ber­hand setzt auf das Ge­such für Anna wie für Otto Quan­gel die we­ni­gen Wor­te: Die Füh­rung war nach der Haus­ord­nung. An­lass zur Gna­de­ner­tei­lung liegt hier nicht vor. Zu­rück an das Reichs­jus­tiz­mi­nis­te­ri­um.

      Wie­de­r­um zwei­ge­teil­te Gna­de: die einen, die sich ge­gen die Haus­ord­nung ver­gin­gen oder die sie nur be­folg­ten, ge­ben kei­nen An­lass zur Gna­de; aber wer sich durch Spio­na­ge, Ver­rat, Miss­hand­lung sei­ner Lei­dens­ge­nos­sen aus­ge­zeich­net hat­te, der fand – viel­leicht Gna­de.

      Auf dem Jus­tiz­mi­nis­te­ri­um bu­chen sie den Wie­der­ein­gang der Ge­su­che, sie drücken einen Stem­pel dar­auf: »Ab­leh­nen!«, und ein mun­te­res Fräu­lein tippt auf sei­ner Ma­schi­ne von mor­gens bis abends: Ihr Gna­den­ge­such wird ab­ge­lehnt … wird ab­ge­lehnt … ab­ge­lehnt … ab­ge­lehnt … ab­ge­lehnt …, den gan­zen Tag lang, alle Tage lang.

      Und ei­nes Ta­ges er­öff­net dem Otto Quan­gel ein Be­am­ter: »Ihr Gna­den­ge­such ist ab­ge­lehnt.«

      Quan­gel, der kein Gna­den­ge­such ge­macht hat, sagt kein Wort, es ist der Mühe nicht wert.

      Aber die Post trägt den al­ten Leu­ten die Ab­leh­nung ins Haus, durch das Dorf läuft das Gerücht: »Die Heff­kes ha­ben einen Brief vom Reichs­jus­tiz­mi­nis­ter be­kom­men.«

      Und wenn die al­ten Leu­te auch schwei­gen, be­harr­lich, angst­voll, zit­ternd schwei­gen, ein Bür­ger­meis­ter hat Wege, die Wahr­heit zu er­fah­ren, und bald kommt zu der Trau­er die Schan­de für zwei alte Leu­te …

      Wege der Gna­de!

      69. Anna Quangels schwerster Entschluss

      Anna Quan­gel hat­te es schwe­rer als ihr Mann: sie war eine Frau. Sie sehn­te sich nach Auss­pra­che, Sym­pa­thie, ein we­nig Zärt­lich­keit – und jetzt war sie im­mer al­lein, von mor­gens bis abends mit dem Ent­wir­ren und Aufrol­len von Bind­fä­den be­schäf­tigt, die sack­wei­se in ihre Zel­le ge­stellt wur­den. So knapp sie ihr Mann auch mit Wor­ten und Ta­ten der Ge­mein­sam­keit ge­hal­ten hat­te, die­ses We­nig schi­en