müssen, Ulrich, der Vorarbeiter in einer optischen Fabrik, und Anna, die Frau eines Tischlermeisters. Dass sie kaum schrieben, sich nicht sehen ließen, das störte die Alten kaum, das war die Art aller Vögel, die flügge geworden sind. Wussten sie doch, es ging den Kindern gut.
Und nun dieser Schlag, dieser erbarmungslose Schlag! Nach einer Weile streckt sich die verarbeitete, dürre Hand des alten Landarbeiters über den Tisch: »Mutter!«
Und plötzlich stürzen bei der Greisin die Tränen: »Ach, Vater! Unsere Anna! Unser Ulrich! Nun sollen sie unsern Führer verraten haben! Ich kann es nicht glauben, nie und nie!«
Drei Tage waren sie so verwirrt, dass sie keinen Entschluss fassen konnten. Sie trauten sich nicht aus dem Hause, sie wagten nicht, jemandem ins Auge zu blicken, aus Furcht, die Schande könne schon bekannt geworden sein.
Dann, am vierten Tag, baten Sie eine Hausnachbarin, ihr bisschen Kleinvieh zu versorgen, und machten sich auf den Weg nach der Stadt Berlin. Wie sie da die windgepeitschte Chaussee entlangwanderten, nach ländlicher Gewohnheit der Mann voran, die Frau einen Schritt hinterdrein, glichen sie Kindern, die sich in der weiten Welt verirrt haben, für die alles zur Drohung wird: ein Windstoß, ein herabfallender dürrer Ast, ein vorüberfahrendes Auto, ein raues Wort. Sie waren so völlig wehrlos.
Nach zwei Tagen wanderten sie die gleiche Chaussee zurück, noch kleiner, noch gebeugter, noch trostloser.
Sie hatten nichts erreicht in Berlin. Die Schwiegertochter hatte sie nur mit Schmähungen überhäuft. Sie hatten den Sohn Ulrich nicht sehen dürfen, weil keine »Besuchszeit« war. Die Anna und ihr Mann – kein Mensch konnte ihnen genau sagen, in welchem Gefängnis sie lagen. Sie hatten die Kinder nicht gefunden. Und der Führer, der geliebte Führer, von dem sie sich Hilfe und Trost erwarteten, dessen Kanzlei sie wirklich gefunden hatten, der Führer war nicht in Berlin gewesen. Er war im Großen Hauptquartier, damit beschäftigt, Söhne umzubringen, er hatte keine Zeit, Eltern zu helfen, die im Begriff standen, ihre Kinder zu verlieren.
Sie sollten nur ein Gesuch machen, war ihnen gesagt worden.
Sie wagten sich niemandem anzuvertrauen. Sie fürchteten sich vor der Schande. Sie, Parteimitglieder seit vielen Jahren, hatten eine Tochter, die den Führer verraten hatte. Sie hätten hier nicht mehr leben können, wenn das bekannt wurde. Und sie mussten doch leben, um die Anna zu retten. Nein, von keinem konnten sie sich bei diesem Gnadengesuch helfen lassen, nicht vom Lehrer, nicht vom Bürgermeister, selbst vom Pastor nicht.
Und mühsam, in stundenlangen Gesprächen, Überlegungen, Schreiben mit zitternder Hand brachten sie ein Gnadengesuch zustande. Es wurde geschrieben und wieder abgeschrieben und noch einmal ins Reine geschrieben und fing so an:
»Mein inniggeliebter Führer!
Eine verzweifelte Mutter bittet Dich auf den Knien um das Leben ihrer Tochter. Sie hat sich schwer an Dir vergangen, aber Du bist so groß, Du wirst Deine Gnade an ihr walten lassen. Du wirst ihr verzeihen …«
Hitler, der zum Gott geworden ist, Herr des Weltalls, allmächtig, allgütig, allverzeihend! Zwei alte Menschen – draußen rast der Krieg und mordet Millionen, sie glauben an ihn, noch da er ihre Tochter dem Henker überantwortet, glauben sie an ihn, kein Zweifel schleicht in ihr Herz, eher ist ihre Tochter schlecht als Gott der Führer!
Sie wagen nicht, den Brief im Dorf abzusenden, gemeinsam wandern sie zur Kreisstadt, um ihn dort zur Post zu geben. Als Adresse steht auf ihm: »An die eigene Person unseres innig geliebten Führers …«
Dann kehren sie heim in ihre Stube und warten gläubig, dass ihr Gott gnädig ist …
Er wird gnädig sein!
Die Post nimmt das verlogene Gesuch des Anwalts wie das hilflose von zwei trauernden Eltern und befördert beide, aber sie bringt sie nicht zum Führer. Der Führer will solche Gesuche nicht sehen, sie interessieren ihn nicht. Ihn interessieren Krieg, Zerstörung, Mord, nicht die Abwendung des Mordes. Die Gesuche wandern in die Kanzlei des Führers, sie bekommen eine Nummer, sie werden registriert, und dann wird ein Stempel auf sie gedrückt: An den Herrn Reichsjustizminister weitergeleitet. Zurück nur hierher, falls Verurteilter Parteimitglied ist, was aus dem Gnadengesuch nicht ersichtlich … (Die zweigeteilte Gnade, die Gnade für Parteigenossen und die Gnade für Volksgenossen.)
Auf dem Reichsjustizministerium werden die Gesuche wiederum registriert und beziffert, sie bekommen einen weiteren Stempel: An die Gefängnisverwaltung zur Stellungnahme.
Die Post befördert die Gesuche ein drittes Mal, und ein drittes Mal bekommen sie Nummern und werden in ein Buch eingetragen. Eine Schreiberhand setzt auf das Gesuch für Anna wie für Otto Quangel die wenigen Worte: Die Führung war nach der Hausordnung. Anlass zur Gnadenerteilung liegt hier nicht vor. Zurück an das Reichsjustizministerium.
Wiederum zweigeteilte Gnade: die einen, die sich gegen die Hausordnung vergingen oder die sie nur befolgten, geben keinen Anlass zur Gnade; aber wer sich durch Spionage, Verrat, Misshandlung seiner Leidensgenossen ausgezeichnet hatte, der fand – vielleicht Gnade.
Auf dem Justizministerium buchen sie den Wiedereingang der Gesuche, sie drücken einen Stempel darauf: »Ablehnen!«, und ein munteres Fräulein tippt auf seiner Maschine von morgens bis abends: Ihr Gnadengesuch wird abgelehnt … wird abgelehnt … abgelehnt … abgelehnt … abgelehnt …, den ganzen Tag lang, alle Tage lang.
Und eines Tages eröffnet dem Otto Quangel ein Beamter: »Ihr Gnadengesuch ist abgelehnt.«
Quangel, der kein Gnadengesuch gemacht hat, sagt kein Wort, es ist der Mühe nicht wert.
Aber die Post trägt den alten Leuten die Ablehnung ins Haus, durch das Dorf läuft das Gerücht: »Die Heffkes haben einen Brief vom Reichsjustizminister bekommen.«
Und wenn die alten Leute auch schweigen, beharrlich, angstvoll, zitternd schweigen, ein Bürgermeister hat Wege, die Wahrheit zu erfahren, und bald kommt zu der Trauer die Schande für zwei alte Leute …
Wege der Gnade!
69. Anna Quangels schwerster Entschluss
Anna Quangel hatte es schwerer als ihr Mann: sie war eine Frau. Sie sehnte sich nach Aussprache, Sympathie, ein wenig Zärtlichkeit – und jetzt war sie immer allein, von morgens bis abends mit dem Entwirren und Aufrollen von Bindfäden beschäftigt, die sackweise in ihre Zelle gestellt wurden. So knapp sie ihr Mann auch mit Worten und Taten der Gemeinsamkeit gehalten hatte, dieses Wenig schien