Quangels Kopf fällt in den Korb.
Einen Augenblick lag er ganz still, als sei dieser kopflose Körper verblüfft über den Streich, den man ihm da gespielt. Dann bäumte der Leib sich auf, er wand sich zwischen Riemen und Stahlbügeln, die Gehilfen des Scharfrichters warfen sich auf ihn und versuchten, ihn niederzudrücken.
Die Venen in den Händen des Toten wurden dick und dicker, und dann fiel alles zusammen. Man hörte nur das Blut, das zischende, rauschende, dumpf niederfallende Blut.
Drei Minuten nach dem Fall des Beils verkündete der bleiche Arzt mit etwas zitternder Stimme den Tod des Hingerichteten.
Sie räumten den Kadaver fort.
Otto Quangel war nicht mehr.
72. Anna Quangels Wiedersehen
Die Monate kamen, und die Monate gingen, die Jahreszeiten wechselten, und Frau Anna Quangel saß noch immer in ihrer Zelle und wartete auf das Wiedersehen mit Otto Quangel.
Manchmal sagte die Aufseherin, deren Liebling Frau Anna jetzt war, zu ihr: »Ich glaube, Frau Quangel, die haben Sie ganz vergessen.«
»Ja«, antwortete die Gefangene 76 freundlich. »Es scheint beinahe so. Mich und meinen Mann. Wie geht es Otto?«
»Gut!«, antwortete die Aufseherin rasch. »Er lässt auch grüßen.«
Sie waren sich alle einig geworden, die gute, immer fleißige Frau den Tod des Mannes nicht erfahren zu lassen. Sie bestellten ihr regelmäßig Grüße.
Und dieses Mal meinte es der Himmel gnädig mit Frau Anna: kein müßiges Geschwätz, kein pflichtbewusster Pastor zerstörten ihr den Glauben an das Leben Otto Quangels.
Fast den ganzen Tag saß sie an ihrer kleinen Handstrickmaschine und strickte Strümpfe, Strümpfe für die Soldaten draußen, strickte tagaus, tagein.
Manchmal sang sie leise dabei. Sie war jetzt fest davon überzeugt, dass Otto und sie sich nicht nur wiedersehen, nein, dass sie auch lange miteinander noch leben würden. Entweder waren sie wirklich vergessen, oder man hatte sie im Geheimen begnadigt. Es konnte nicht mehr lange dauern, und sie waren frei.
Denn so wenig die Aufseherinnen davon auch sprachen, das hatte Anna Quangel doch gemerkt: es stand schlecht draußen mit dem Krieg, und die Nachrichten wurden von Woche zu Woche schlechter. Sie merkte es auch an dem sich rasch weiter verschlechternden Essen, an dem oft fehlenden Arbeitsmaterial, durch den zerbrochenen Teil ihrer Strickmaschine, dessen Ersatz wochenlang dauerte, dass alles immer knapper wurde. Aber wenn es schlecht mit dem Kriege stand, so stand es gut für die Quangels. Bald waren sie frei.
So sitzt sie und strickt. Sie strickt ihre Träume, Hoffnungen, die sich nie erfüllen werden, Wünsche, die sie früher nie gehabt, in die Strümpfe. Sie malt sich einen ganz anderen Otto aus, als der ist, an dessen Seite sie gelebt hat, einen heiteren, vergnügten, zärtlichen Otto. Sie ist fast zu einem jungen Mädchen geworden, dem das ganze Leben noch frühlingsfroh winkt. Träumt sie nicht manchmal sogar davon, noch Kinder zu haben? Ach, Kinder …!
Seit Anna Quangel das Zyankali vernichtete, als sie beschlossen hatte, nach schwerstem Kampf, auszuhalten bis zum Wiedersehen mit Otto, es möge ihr geschehen, was wolle – seitdem ist sie frei und jung und fröhlich geworden. Sie hat sich selbst überwunden.
Und nun ist sie frei. Furchtlos und frei.
Sie ist es auch in den immer schwereren Nächten, die der Krieg jetzt über die Stadt Berlin gebracht hat, wenn die Sirenen heulen, die Flieger in stets dichteren Schwärmen über der Stadt ziehen, die Bomben fallen, die Minen zerreißend schreien und Feuersbrünste überall aufglühen.
Auch in solchen Nächten bleiben die Gefangenen in ihren Zellen. Man wagt nicht, sie in Schutzräume zu führen, aus Furcht vor Meuterei. Sie schreien in ihren Zellen, sie toben, sie bitten und flehen, werden wahnsinnig vor Angst, aber die Gänge sind leer, keine Wache steht noch dort, keine erbarmende Hand schließt die Zellentüren auf, das Wachtpersonal sitzt in den Luftschutzräumen.
Anna Quangel ist ohne Furcht. Ihre kleine Rundmaschine tickert und tuckert, reiht Maschenkreis an Maschenkreis. Sie benutzt diese Stunden, in denen sie doch nicht schlafen kann, zum Stricken. Und beim Stricken träumt sie. Sie träumt von dem Wiedersehen mit Otto, und in einen solchen Traum bricht ohrenzerreißend die Mine ein, die diesen Teil des Gefängnisses in Schutt und Asche legt.
Frau Anna Quangel hat keine Zeit mehr gehabt, aus ihrem Wiedersehenstraum mit Otto aufzuwachen. Sie ist schon bei ihm. Sie ist jedenfalls dort, wo auch er ist. Wo immer das nun auch sein mag.
73. Der Junge
Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch beschließen, es ist dem Leben geweiht, dem unbezwinglichen, immer von Neuem über Schmach und Tränen, über Elend und Tod triumphierenden Leben.
Es ist Sommer, es ist der Frühsommer des Jahres 1946.
Ein Junge, ein junger Mann fast schon, kommt über den Hof einer märkischen Siedlung gegangen.
Eine ältere Frau begegnet ihm. »Na, Kuno«, fragt sie. »Was gibt’s heute?«
»Ich will in die Stadt«, antwortet der Junge. »Ich soll unsern neuen Pflug abholen.«
»Na«, sagt sie, »ich schreibe dir noch auf, was du mir mitbringen kannst – wenn du’s kriegst!«
»Wenn’s nur da ist, dann kriege ich es auch schon, Mutter!«, ruft er lachend. »Das weißt du doch!«
Sie sehen sich lachend an. Dann geht sie ins Häuschen zu ihrem Mann, dem alten Lehrer, der längst das Pensionsalter hat und der noch immer seine Kinder lehrt – wie der Jüngste.
Der Junge zieht das Pferd Toni, ihrer aller Stolz, aus dem Schuppen.
Eine halbe Stunde später ist Kuno-Dieter Barkhausen auf dem Wege zur Stadt. Aber er heißt nicht mehr Barkhausen, rechtens und mit allen Formalitäten ist er von den Eheleuten Kienschäper adoptiert, damals, als es klar wurde, dass weder Karl noch Max Kluge aus dem Kriege heimkehren würden. Übrigens ist auch der Dieter bei dieser Gelegenheit ausgemerzt: Kuno Kienschäper klingt ausgezeichnet und ist völlig genug.
Kuno pfeift vergnügt vor sich hin, während der Braune Toni langsam in der Sonne den ausgefahrenen Feldweg entlangzuckelt. Soll er sich Zeit lassen, der Toni, zum Mittag sind sie immer wieder zurück.
Kuno sieht auf die Felder rechts und links, prüfend, fachmännisch beurteilt er den Saatenstand. Er hat viel gelernt hier auf dem Lande, und er hat – gottlob! – fast ebenso viel vergessen. Der Hinterhof mit der Frau Otti, nein, an den denkt