nicht sehr einnehmende Seite seines Wesens kennenlernte. Die Folgen waren ein völlig zerschlagener Schuster, ein Otsche mit einem gebrochenen Bein und ein Liesmann, der nun seinerseits für acht Wochen den Arrest bezog. Als er wieder zu uns zurückkam – ihn hatte keiner mit Sondergaben versorgt –, war Schmeidler aus unserer Mitte verschwunden – in irgendein Jugenderziehungsheim, in das er längst gehört hätte.
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Ich kehre nun zu meinen eigenen Erlebnissen zurück. Es ist noch immer der Ankunftstag in der Heil- und Pflegeanstalt; eben habe ich die Freistunde hinter mich gebracht, habe ersten Einblick getan und erste Bekanntschaften geschlossen und stehe nun wieder auf dem langen, düsteren Korridor, der auch am schönsten, hellsten Sommertag düster bleibt. Stunde um Stunde wandere ich dort auf und ab, unbeschäftigt, zerquält und doch stumpf. Froh bin ich, wenn der Oberpfleger oder ein Wachtmeister einmal vorüberkommt, mit einem Kranken, die Wäsche zur Kammer tragen, oder mit einem Stoß alter Akten. Es geschieht doch was! Es geht mich nichts an, was geschieht, und eigentlich geschieht auch gar nichts, aber ich werde von mir und meinem so ungewissen Schicksal abgelenkt: Ich mag, ich kann mit mir nichts mehr zu tun haben!
Manchmal stelle ich mich auch an das eine mir zugängliche Fenster – das andere ist durch den Glaskasten verbaut – und starre hinaus, über die stachelbewehrte Mauer hinweg, in die Freiheit, die dort sonnenglitzernd »draußen« liegt. Vor mir ragen, wiederum »draußen«, hohe Bäume. Linden sind es wohl; sie beschatten eine Chaussee, auf der Autos eilig vorbeirasen, ich sehe Mädchen auf ihren Rädern in hellen Kleidern vorbeitreten – aber ich wende den Kopf fort und trete wieder tiefer in den düsteren Gang hinein. Das Leben da draußen quält mich, es gehört nicht mehr zu mir, ich bin davon abgetrennt, nichts wissen will ich mehr von ihm! Fahrt alle vorüber und fort, werde das Land leer von euch! Die Bäume sollen verdorren, der Sand über Wiesen und Äcker wehen, Wüste müsste um ein solches Totenhaus sein, dürre, tote Wüste.
Manchmal trete ich auch in einen der beiden Tagesräume ein, in den großen oder in den kleinen, und sitze da fünf oder zehn Minuten bei meinen Leidensgefährten. Leidensgefährten? Sie können nicht so leiden wie ich, ihr Schicksal hat sich schon entschieden, es ist die Ungewissheit, die mich so quält! Manche schlafen, den Kopf auf den Tisch gelegt (denn das Schlafen auf den Betten ist verboten!), andere dösen stumpf vor sich hin, ein kleines, völlig schief gebautes, noch junges Menschenbündel, das auf beiden Augen schielt (aber auf jedem anders!), mit einem birnenförmigen Kopf, hat ein unglaubhaft schmutziges Spiel Karten vor sich und legt langsam eine Karte nach der anderen vor sich hin, betrachtet sie sehr lange und grinst blöde dabei. Einer hat eine Zeitung vor sich, über die er hinwegstarrt. Und einer hat sich sogar die Hose ausgezogen und untersucht mit schmerzverzogener Miene die eitrigen und blutigen Furunkel an seinem Bein – an unserem Esstisch!
Ich fliehe vor Ekel und stehe wieder auf dem Korridor. Ich lese die Namenstafeln an den Zellen; ich lese da: Gother, Gramatzki, Deutschmann, Brandt, Westfahl, Burmester, Röhrig, Klinger. Und im Weitergehen wiederhole ich es mir, wiederhole es wie die Vokabeln, die ich als Junge lernte: Gother, Gramatzki, Deutschmann, Brandt … Wiederhole es immer wieder, bis es sitzt. Und gehe zur nächsten Tafel über … So lerne ich, bringe die Zeit hin, diese endlose Zeit, zweieinhalb endlose Stunden! Was sind draußen zweieinhalb Stunden? Aber was sind sie hier! Aber schließlich rücken die Hausarbeiter aus ihren Arbeitszellen ein, die Mattenflechter und Bürstenmacher; Türen werden geschlagen, Rufe werden laut, im Waschraum läuft Wasser, Pfeifen werden angebrannt. Gott sei Dank, Leben, ein bisschen Leben!
Und schon ertönt der Ruf: »Die Fabrik rückt ein!« und gleich darauf der andere: »Essenholer antreten!«
Wenig später sitzen wir in dem nun wieder voll besetzten Tagesraum; die in der Fabrik waren, sollen Neuigkeiten berichten und erzählen umständlich, dass sie diesmal Kisten zu tragen hatten, die anderthalb Zentner wogen, gestern waren es Kisten, die nur einen Zentner zwanzig Gewicht hatten. Sofort wird mit wütender Erbitterung ein Streit darüber geführt, wie sich diese Gewichtsdifferenz erklären lasse.
Um unser Essen brauchen wir uns dabei nicht zu kümmern, es isst sich von selbst, es ist Wasser mit einigen Kohlrabistücken. Ich bin noch so fein, dass ich diese Stücke, die vollkommen holzig sind, neben meine Schüssel lege. Eine große, verarbeitete Hand fährt über den Tisch, reißt die Stücke mit und schiebt sie in ein weit geöffnetes Maul.
Sofort schreit mich von der anderen Seite eine wütende Stimme an: »Warum gibst du, verdammt noch mal, dem Jahnke deinen Kohlrabi?! Der Kerl frisst alles in sich rein, was er zu sehen kriegt, der würde auch Scheiße fressen, der Kerl!«
Und Jahnke brüllt wütend zurück: »Was geht dich Rotzjungen an, was ich fresse? Wenn der Neue mir den Kohlrabi gibt, ist das seine Sache! Bist du sein Vormund? Aber jeder junge Rotzjunge möchte hier Vormund spielen …«
Gottlob bin ich bei diesem neu sich entspinnenden Streit, in den sich natürlich auch sofort andere mischen (»Hört doch endlich mit diesem Gesabbel auf, Gottverdammmich! Könnt ihr nie Ruhe halten?!« – »Was geht’s dich an?!« – »Recht hat er! Ruhe wollen wir haben!« – »Und ich schreie, soviel ich will!«). Gottlob werde ich in all dem nun entstehenden Tumult ganz vergessen. Der Wachtmeister aber im Glaskasten, der auch ein Fenster in unseren Tagesraum hat, hebt bei dem Gebrüll gar nicht den Kopf, liest seine Zeitung ruhig weiter.
Das Essen ist vorüber, ich habe das gestern noch für unmöglich Gehaltene vollbracht: Ich habe einen schieren Liter warmes Wasser in mich hineingelöffelt. Im Augenblick komme ich mir gesättigt vor. In der Nacht aber wird mich das Knurren meines Magens darüber belehren, dass ich ganz und gar nicht gesättigt bin. Dafür aber werde ich von nun an auch zu den häufigen Kübelgängern gehören.
Der Oberpfleger holt die Leute zusammen, die zum Arzt sollen oder wollen, letztere nur, soweit er ihr Vorhaben billigt. Von unserer Abteilung allein an die zwanzig Mann, ich gehöre nicht dazu. In der Hauptsache sind es Arm- und Beinverletzte, in der Arbeit erworbene Schäden. Es gibt erstaunlich viele derartige Schäden, entweder taugt die Unfallverhütung in der Fabrik nichts, oder diese geistesschwachen Arbeiter sind besonders ungeschickt. (Aber in diesem Fall müsste man ihnen doch eine ungefährlichere Arbeit geben?)
Vor dem Gitter aber, das unseren Korridor gegen das Treppenhaus abschließt, haben sich andere Kranke aus den beiden Häusern drüben angesammelt, ich zähle über dreißig. Und nun rücken »die Weiber« an, meist Mädchen, auch an die zwanzig, unter der Führung ihrer Aufseherin. Sie werden ganz dicht