Ende des Ganges war. Ich habe ihn nicht zu Gesicht bekommen. Aber das macht nichts, ich komme heute doch nicht vor. Es ist auch besser so, bei über siebzig Kranken hat er doch nicht recht Zeit für mich. Besser ist es, einen anderen Tag abzuwarten, an dem es ruhiger ist. Ich muss ihm meine Geschichte in aller Ausführlichkeit erzählen.
Der Oberpfleger ruft: »Fußkranke vor, Füße freimachen!«
Und nun geht es los, in einem atemberaubenden Tempo. Immer zu sechs Mann werden sie in das Arztzimmer gelassen, und spätestens nach einer Minute taucht schon der Erste wieder draußen auf: verarztet und behandelt! Der Oberpfleger ruft: »Die anderen den Oberkörper freimachen! Hintereinander antreten!«
Die Mädchen guckten, wie die Männer aus ihrem Hemde schlüpften. Das erregte die Wut der Aufseherin, einer derben ältlichen Person mit rotem Gesicht. Sie stürzte auf ein Mädchen zu, der ein paar Locken unter dem Kopftuch in die Stirn hingen. »Was soll das Gezottel?!«, schrie sie zornig. »Nur Männer im Kopf, was? Warte, ich will es dir zeigen, dich hier hübsch zu machen!« Und sie riss dem Mädchen roh das Tuch vom Kopf. »Was?!«, schrie sie dann empört. »Sogar Locken hast du dir aufgesteckt?! Habe ich dir nicht hundertmal gesagt, du sollst einen einfachen Scheitel tragen? Aber ich will es dir zeigen!« Und sie riss das Mädchen an den Haaren, riss die paar dürftigen Haarlöckchen auseinander. Das Mädchen bewegte geduldig, ohne auch nur eine Miene von Protest oder Schmerz, den Kopf hin und her, ganz wie ihre Peinigerin an den Haaren riss.
Aber ich hatte nicht Zeit, diesem empörenden Vorgang (den ich als Einziger empörend zu finden schien) weiter zu folgen. Der Oberpfleger kam auf mich zu: »Rasch, Sommer, packen Sie Ihr Bettzeug und Ihre Sachen zusammen, Sie werden verlegt!«
Das Bettzeug und die Sachen waren rasch genug in ein Bündel gepackt, und ich folgte dem Oberpfleger, der in der Nähe des Glaskastens eine Zellentür öffnete. Die Zelle war kleiner als meine bisherige, aber es standen auch nur vier Betten in ihr. Gottlob schlief man hier nicht in zwei Etagen. Die Zelle war auch heller, luftiger, es roch nicht schlecht in ihr. Ich hatte mich entschieden verbessert; mit Recht schob ich das auf die Einwirkung des Arztes. ›Gottlob, er ist mir günstig gesinnt‹, dachte ich. ›Alles steht gut.‹
Unterdes hatte der Oberpfleger einen alten Mann aus dem Bett gejagt. »Los, los, auf, Meier!«, schalt er. »Machen Sie doch ein bisschen schnell! Sie kommen auf Station 2.«
»Ach Gott!« jammerte der alte Mann. »Muss ich denn wirklich schon wieder umziehen, Herr Oberpfleger? Immer werde ich rumgeschubst! Dies Bett habe ich doch erst ein paar Wochen! Und es war so ruhig hier und so schöne Luft …«
Aber der Oberpfleger war nicht gesonnen, die Jeremiaden eines alten Mannes anzuhören. »Raus mit Ihnen, Meier!«, rief er dem alten Mann zu und gab ihm einen kräftigen Stoß. »Unterlassen Sie dies Gemecker!«
Der Alte taumelte auf seinen steckenhaft dürren Beinen aus der Zelle mit seinem Bettbündel; das kurze Hemd bedeckte kaum seine Hinterbacken. (Übrigens waren alle unsere Hemden zu kurz, manche bedeckten nicht einmal ganz die Geschlechtsteile; oft boten die Männer im Waschraum einen traurig-lächerlichen Anblick. Wahrscheinlich war es wiederum der Geiz der Verwaltung, der sogar unsere Hemden zur Stoffersparnis kürzte.)
»Sie können Ihr Bett nachher überziehen!«, sagte der Oberpfleger eilig. »Kommen Sie jetzt mit zum Arzt! Er wartet schon.«
50
Wirklich, der Arzt wartete schon für mich – kaum war eine Stunde vergangen, und reichlich siebzig Patienten waren bereits behandelt. Medizinalrat Dr. Stiebing, im weißen Ärztemantel, lächelte mir freundlich entgegen, er forderte mich auf, Platz zu nehmen, und reichte mir sogar die Hand. Wartend, mit wachsamen Augen, stand der Oberpfleger im Hintergrund, keine Bewegung, kein Wort ließ er sich entgehen. Ich fand es gut, dass er sah, mit welcher Auszeichnung mich der Medizinalrat behandelte, jetzt dieser freundliche Empfang, vorher die Verlegung auf eine bessere Zelle – er würde sich schon in acht nehmen, mich zu hart zu behandeln.
»Also«, sagte der Medizinalrat lächelnd, »nun sind Sie also doch bei mir gelandet, Herr Sommer. Vor vierzehn Tagen hätten wir Sie noch in eine etwas komfortablere Umgebung gebracht, der Kollege Mansfeld und ich. Nun, nun, Sie werden es auch hier aushalten. Es ist ein ordentliches Haus, es wird Ihnen hier schon Ihr Recht werden. Ein bisschen Disziplin ist jedem Menschen gut, nicht wahr?«
Er war wirklich die Freundlichkeit selbst. Gerührt dankte ich ihm für den mir zugewiesenen besseren Schlafplatz.
»Schon gut, schon gut«, wehrte der Medizinalrat ab. »Was wir tun können, Ihnen den Aufenthalt hier zu erleichtern, das werden wir schon tun. Natürlich gibt es gewisse unumstößliche eiserne Hausgesetze …« Er sah mich mit einem freundlichen Bedauern an. Dann: »Und auch Sie werden alles tun, um uns unsere Aufgabe zu erleichtern, nicht wahr, Herr Sommer?«
Ich versicherte es, ich fragte, ob der Medizinalrat ein Gutachten über mich zu erstatten habe?
»Nein, noch nicht«, sagte er rasch. »Ich nehme an, man wird eines von mir anfordern, aber vorläufig sind Sie mir nur zur Unterbringung hier zugewiesen, Herr Sommer.«
»Aber dann dauert das alles doch so lange!«, rief ich klagend. »Warum denn nicht sofort dieses Gutachten erstatten? Der Fall liegt doch ganz klar. Es liegt doch nur eine kleine Bedrohung vor, und ich bin überzeugt, dass Magda, dass meine Frau aussagen wird, dass sie sich gar nicht von mir bedroht gefühlt hat. Wegen einer solchen kleinen Sache kann man mich doch nicht wochenlang hier festhalten!« Ich hatte immer ernster und immer überzeugender gesprochen, von vornherein wollte ich klarstellen, ein wie großer Abstand zwischen meinem Fehltritt und der Unterbringung hier bestand.
»Aber, aber!«, rief der Arzt und legte mir beruhigend die Hand auf den Arm. »Warum denn so eilig? Erst einmal müssen Sie sich gründlich ausruhen und wieder ganz gesund werden …«
»Aber ich bin ganz gesund!«, versicherte ich.
»Kein Schwindel?«, fragte der Arzt. »Keine Schweißausbrüche? Kein Appetitmangel und dann plötzlicher Heißhunger? Keine Sehnsucht nach Alkohol?«
»Ich denke überhaupt nicht an Alkohol!«, rief ich, entsetzt über einen solchen gefährlichen Verdacht. »Ich fühle mich ganz gesund!«
»Also wirklich gar keine Abstinenzerscheinungen?«, fragte der Arzt zweifelnd. »Nun, wie steht es damit, Oberpfleger, haben Sie etwas beobachtet?«
Erwartungsvoll sah ich in das harte dunkle Gesicht des Oberpflegers. Er konnte nicht das Geringste beobachtet haben, dessen war ich sicher.