der sich an jeden verkaufte, er war seinem Freunde Herbst treu. Herbst führte freilich auch ein gestrenges Regiment über ihn, schlug ihn sogar manchmal, sobald er nach Herbstens Ansicht eine Dummheit begangen hatte, fütterte ihn aber auch bis zum Mästen und hielt ein wachsames Auge über ihn.
Kolzer, ein großer, kräftiger Junge mit dunkelblondem Haar, hatte ein nicht unschönes Gesicht, das aber stumpf und ohne Leben wirkte. Er war stark schwachsinnig, konnte weder lesen noch schreiben, hatte aber durch das unermüdliche Bemühen seines Freundes wenigstens »Mensch ärgere dich nicht« spielen gelernt. Aber so unentwickelt Kolzers Geist auch war, so gut verstand es der Junge, sich auf der Station durchzusetzen, und vor allem, sich dauernd von der Arbeit zu drücken. Immer hatte er kleine, nicht schmerzhafte Verletzungen oder geringe Fieberanfälle, die ihm das Arbeiten ganz unmöglich machten.
Unter den Kranken herrschte deswegen eine ständige Missstimmung, bei Schmeidler war es ja ganz ähnlich. »Die jungen starken Bengel sitzen im Bau, und die alten abgemergelten Männer müssen die Arbeit tun!«
Das war wohl wahr, aber Kolzer besaß auch einen mächtigen Fürsprecher in der Person seines Freundes Herbst, der ständig im Glaskasten aus und ein ging und der bevorzugte Nachrichtenträger des Oberpflegers war.
Kolzer also wurde mit Margarine- und Marmeladenschnitten gefüttert, und da man sich im Bau nie isolieren konnte, blieb es nicht aus, dass er von anderen Kranken oft beim Verzehr des Diebesgutes erwischt wurde.
»Heute hat der Kolzer wieder auf dem Klosett Brot gefressen, da war so dick Butter drauf!« (Die Margarine hieß im Haus nur »Butter«.) Dann tobte Herbst über die Lampenmacher.
Zur Rede gestellt vom Oberpfleger, erklärte er, dass er dem Kolzer nur die beim Brotschneiden abgefallenen Krumen gegeben habe, vielleicht sei eine abgebrochene Brotecke dabei gewesen, und die Margarine habe sich Kolzer vom Einwickelpapier abgekratzt … Im Übrigen, wenn es so weitergehe mit den Stänkereien, schmeiße er die Arbeit hin und gehe wieder in die Fabrik. Mochten die anderen doch sehen, ob sie seinen Posten besser versehen könnten. Er sei – hier nahm seine Stimme einen klagenden, weinerlichen Ton an – er sei immer ehrlich und anständig gewesen, aber das dürfe man eben in diesem Haus voller Banditen nicht sein! Nein, jetzt habe er es endgültig über, jetzt gehe er wieder in die Fabrik … Dann redeten ihm die Wachtmeister gut zu, und er blieb gnädig. Er hatte ja auch seine Vorteile: Er hielt auf sich, war sauber und trug unbedenklich den Beamten alles zu.
Zu seinen Gefährten aber war Herbst nach einer solchen Anzeige nicht weinerlich. In seiner Wut über die Denunziation verlor er jede Selbstbeherrschung; schneeweiß im Gesicht schrie er den anderen an und vergaß eine solche Beleidigung seiner »Ehrlichkeit« nie. Vor dem Schlagen nahm er sich höllisch in acht. Früher war er als gefürchteter Schläger öfter in Arrest gewandert, aber der Medizinalrat hatte ihm klargemacht, dass er nie auf eine Entlassung würde rechnen können, wenn er sich nicht zu beherrschen lerne. Und entlassen wollte Herbst unter allen Umständen werden. Die Entlassung war die eine große Hoffnung dieses fünfundzwanzigjährigen Menschen, der die entscheidenden sieben Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht hatte. Für diese Entlassung hatte er das größte Opfer gebracht: Er hatte sich freiwillig entmannen lassen.
Er hatte seine Gefängnisstrafe wegen Sittlichkeitsvergehen mit jungen Burschen bekommen, und man hatte Herbst begreiflich gemacht, dass er nie auf die Freiheit würde rechnen können, wenn er nicht in diese Entmannung willige. Anderthalb Jahre hatte der junge Mensch mit sich gekämpft, dann hatte er eingewilligt. Zu der Zeit, da ich eingeliefert wurde, lag die Entmannung erst ein halbes oder gar nur ein Vierteljahr hinter ihm. Schon wurde er fett, sein Gesicht sah schwammig aus und war ungesund bleich. Die Augen blickten trostlos.
Aber er hoffte von Tag zu Tag auf die Entlassung, der Medizinalrat hatte sein Gesuch befürwortet, alle hatten es ihm gesagt. Da hatte er sich nun zu dieser schrecklichen Sache, der Entmannung, entschlossen, und noch immer war er nicht frei. Er wartete von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, aber der ersehnte Bescheid vom Generalstaatsanwalt kam nicht. Manchmal tobte Herbst: Man habe ihn richtig reingelegt, der Medizinalrat, der Oberpfleger, alle hätten sie ihn übers Ohr gehauen! Da sei er nun seine – Hoden los, und für was?! Für nichts, bloß damit die hohen Herren ihn auslachten!
Mittlerweile war es sonderbar, dass diese Entmannung nichts an seinen Gefühlen für Kolzer geändert hatte. Er war wie vorher sein Freund, sein einziger Umgang, sein Päppelbaby. Für ihn lebte er, nur an ihn dachte er. Hatte der Junge am Abend ein bisschen Fieber, redete Herbst bei unseren Einschlafgesprächen kein Wort mit; er hatte die Decke über den Kopf gezogen, aber er schlief nicht. Nein, vielleicht merkte Kolzer etwas davon, dass die Gefühle Herbstens für ihn sich jetzt verändert hatten, wir sahen nichts davon.
Am meisten von allen im Bau hasste Herbst den Schuster Buck, jenen eitlen, dummen und intriganten Menschen, der, wie ich im Falle Schmeidler erlebt hatte, die gleichen Neigungen wie Herbst hatte. Als an einem Abend der Schuster den Jungen Kolzer wegen heimlichen Brotessens im Glaskasten denunziert hatte, fiel Herbst, wohl ganz kopflos durch das lange, vergebliche Warten auf seine Entlassung geworden, über Buck her und schlug ihn windelweich.
Bei der nächsten Arztvisite wurde er vor den Medizinalrat gerufen und ihm eröffnet, seine bereits vom Generalstaatsanwalt verfügte Entlassung könne nun doch nicht erfolgen, da er durch diese Schlägerei völligen Mangel an Hemmungen, an Selbstbeherrschung bewiesen habe. Ich lasse es – einig diesmal mit dem ganzen Bau – dahingestellt, ob Herbst wirklich entlassen werden sollte, oder ob dies nur ein Vorgeben des Arztes war, um sich von einem Versprechen zu lösen, dessen Erfüllung sich durch die Haltung des Generalstaatsanwaltes nachträglich als sehr schwierig herausgestellt hatte. Jedenfalls wanderte Herbst statt in die ersehnte Freiheit erst einmal für vierzehn Tage in den Arrest und trat dann wieder seinen alten Posten als Kalfaktor an. Er war ein sehr schlechter Charakter, und doch musste ich die Haltung bewundern, mit der er diese fürchterliche Enttäuschung aufnahm. Er sprach nie wieder ein Wort von seiner Entlassung, er tat seine Arbeit fleißig, sauber und unredlich wie bisher, er lebte nur noch für den Bau.
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Von meinem dritten Schlafgenossen, Holz mit Namen, weiß ich wenig genug zu berichten. Er war ein kräftiger junger Mann von etwa dreißig Jahren – jünger als seine Jahre aussehend, und man hätte den kleinen blonden Schnurrbart unter seiner Nase kokett nennen können,