überhaupt nichts zu tun. Wirklich, Herr Medizinalrat, ich denke überhaupt nicht an Schnaps …«
Der Medizinalrat und auch der Oberpfleger, beide lächelten dünn.
»Aber wirklich!«, rief ich noch überzeugender. »Ich habe einen solchen Schock durch meine Verhaftung und all die Folgen jetzt erlitten: Nie in meinem Leben wieder werde ich einen Tropfen Alkohol anrühren!«
»Das klingt schon besser«, sagte Dr. Stiebing freundlich und nickte.
»Und wenn ich gestern die Kohlsuppe nur angegessen habe, so doch nur darum, weil mir solches Essen ganz ungewohnt ist. Sicher«, setzte ich eilig hinzu, »war die Kohlsuppe sehr gut, aber zu Hause esse ich eben andere Dinge …«
Beide sahen mich so aufmerksam an.
»Und wenn ich ein bisschen viel hin- und hergelaufen bin und keine Ruhe gehabt habe, so ist das in meiner Lage doch nur erklärlich. Wenn man eben über sein ganzes Schicksal im ungewissen ist, wird man unruhig. Überhaupt laufen alle Menschen, die lange warten müssen, auf und ab, das sieht man doch in jedem Wartezimmer beim Zahnarzt, auf den Gängen im Gericht …«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach mich der Arzt, ich hatte aber das Gefühl, dass ich ihn nicht überzeugt hatte, und dass er lange nicht alles »schon gut« fand. »Und was ist mit der Rasierklinge? Die haben Sie ja ganz übergangen!«
Ich wollte nicht rot werden – und doch … Nein, vielleicht bin ich gar nicht rot geworden, bilde es mir nur ein. Jedenfalls sagte ich mit großer Festigkeit: »Die Rasierklinge habe ich nicht übergangen, an die habe ich einfach nicht mehr gedacht. Ich habe hier nie eine Rasierklinge gehabt, wozu auch, wenn ich doch keinen Apparat habe …« Vielleicht stellte ich mich zu simpel, vielleicht dachte auch der Arzt, dass der Beschuldigte meist gegen eine ganz falsche Behauptung am schärfsten protestiert. Ich fand jedenfalls, dass schon diese einleitende Besprechung, bei der doch noch gar nicht von meiner Sache die Rede war, voller Fallen und Hinterlisten steckte.
Dem Arzt aber war nicht anzusehen, was er von meinen Worten dachte. Ganz freundlich sagte er: »Jedenfalls haben Sie, wie ich gehört habe, vor noch gar nicht langer Zeit mit Trinken angefangen, da werden die Abstinenzerscheinungen ja gar nicht so heftig gewesen sein. Sie waren ja vorher auch noch in der Untersuchungshaft …«
»Ja«, sagte ich, »und jeden Tag habe ich dort auf dem Holzhof gearbeitet – ich habe mich freiwillig zu dieser Arbeit gemeldet –, und fragen Sie jeden Wachtmeister, ob ich nicht genauso viel wie jeder andere gearbeitet habe, und ich bin doch solche Arbeit eigentlich gar nicht gewöhnt.«
»Sie haben dann aber ziemlich kräftig getrunken?«, fragte mich der Arzt und schien nicht gesonnen, nach der Güte meiner Holzarbeit Erkundigungen einzuziehen. »Man kann wohl sagen: sehr kräftig?«
»Eigentlich nie mehr, als ich vertragen konnte!«, versicherte ich. »Ich habe nie getaumelt, Herr Medizinalrat, und bin nie hingefallen.«
Einen Augenblick musste ich an jene Szene denken, wie ich mich immer wieder unter Elinors Fenster am Dachrand hatte hochziehen wollen und immer wieder rücklings in die Büsche gestürzt war. Und gleich erschien eine zweite Szene vor meinem inneren Auge, die sogar der Medizinalrat selbst beobachtet hatte, wie ich wirklich ziemlich sternhagelvoll mit einigen ebenso betrunkenen Dorfbewohnern randalierend am Schenkentisch gesessen, wie ich beim Hinausgehen fast gefallen war, wie mich Dr. Mansfeld zum Auto hatte führen müssen … ›Das hätte ich nicht behaupten dürfen‹, dachte ich verzweifelt. ›Das war falsch. Das entwertet meine anderen, wirklich absolut wahren Aussagen!‹ Aber ich verbot mir, daran zu denken, ich wollte auch den Medizinalrat hindern, darüber lange nachzudenken, deshalb fuhr ich rasch fort: »Jedenfalls bin ich bei jener Szene mit meiner Frau, die mir zuerst als Mordversuch ausgelegt worden ist, bei klarem Bewusstsein gewesen. Ich wusste genau, was ich tat, und ich tat kein bisschen mehr, als ich tun wollte. Und ich hatte vorher wirklich verhältnismäßig wenig getrunken.«
»Ja, mein Lieber«, sagte der Arzt, plötzlich fast spöttisch lächelnd, »unser beider Ansichten von Wenigtrinken scheinen ein wenig weit voneinander entfernt. Zählen Sie mir doch mal auf, was Sie so im Durchschnitt täglich getrunken haben, soweit Sie sich daran erinnern natürlich.«
Ich dachte an Mordhorst, und wie er meine törichte Wahrheitsliebe getadelt hatte, dass ich vor dem Richter so eingehende Angaben über meinen Schnapsverbrauch gemacht hatte. Ich überlegte, ob der Arzt wohl schon diese Akten zur Einsicht erhalten hatte, und entschied, dass das wohl kaum der Fall war, da noch kein Gutachten von ihm angefordert war. Dennoch beschloss ich, sehr vorsichtig zu sein, nicht zu viel zu schwindeln, doch aber einen möglichst guten Eindruck zu erzielen. Bisher hatte ich keinen großen Erfolg mit meinen Angaben gehabt, das war klar. Alles aber kam darauf an, von Anfang an einen guten Eindruck auf den Arzt zu machen: Hat man bei einem Menschen erst einmal gewonnen, so haben es nachfolgende, selbst ganz ungünstige Nachrichten schwer, diesen ersten guten Eindruck zu erschüttern. So überlegte ich, und so richtete ich auch meine Aussage ein. Fast nie hätte ich mehr als eine Flasche am Tage getrunken, aber meistens weniger … Was ich in der Schenke verzehrt, wüsste ich nicht mehr so genau, weil ich dort aus kleinen Gläsern und auch mancherlei durcheinandergetrunken, für andere mit bezahlt hätte, gab ich an.
Der Arzt hörte meinen etwas weitschweifigen Bericht, das Gesicht in die Hand gestützt, fast schweigend an, nur selten eine kurze Frage einwerfend. Schließlich, als ich nichts mehr zu sagen wusste, sagte er: »Wie gesagt, es ist noch kein Gutachten von mir eingefordert, wir haben uns erst einmal nur ein bisschen unterhalten, um einander kennenzulernen. Machen Sie sich aber von dem Gedanken frei, Sommer« (Sommer! Nicht mehr »Herr« Sommer), »dass Ihre Berichte über das Gewesene Ihr Schicksal in diesem Hause entscheidend beeinflussen können. Über Ihre Zukunft entscheidet allein Ihr Wille, stark zu sein und Versuchungen wie den früheren zu widerstehen …« Er sah mich ernst an.
Ich bin nicht sehr schlagfertig, ja ich bin wohl ein etwas langsamer Denker, so nickte ich eifrig bejahend und meinen Besserungswillen beteuernd. Erst zehn Minuten später, in meinem Bett, wurde mir klar, dass der Arzt mit diesem Satz meine Aussagen eigentlich als Lügen gebrandmarkt hatte – ach nein, nicht nur eigentlich. Natürlich hatte er die Akten schon in der Hand gehabt und dort gelesen, wie ich fast für jeden Tag genaue Angaben über meinen Schnapsverbrauch gemacht hatte, sehr wesentlich höhere Angaben als heute. Aber da war es für den »guten ersten Eindruck« endgültig zu spät.
Jetzt reichte mir der Medizinalrat