verwirrt. Bei ihm war jedenfalls sein Name sein Schicksal, das verriet schon sein Gesicht.
Tagelang war er ganz stumm, und dann hatte er wieder Zeiten, in denen er mit heiterer, hoher Stimme (und doch immer fast tonlos, ganz ohne Resonanz) vieles erzählte: vom ausdörrenden Sonnengott, vom Glashaus auf dem Montblanc, in dem die nächste Eiszeit zu verbringen war, und von den Kastanien und Eicheln, die durch eine von ihm erdachte »Säfteumkehrung« essbar werden würden. Dadurch würde unsere Anstaltsverwaltung in die Lage versetzt werden, uns mit besserer Kost und doch ganz umsonst zu ernähren. (Wie bei uns allen, kreisten auch bei Qual die Gedanken wohl verwirrt, doch unablässig um das bisschen Fressen.)
Zu anderen Zeiten war Qual wieder stumm oder streitbar und reizsüchtig, dann gingen ihm alle weit aus dem Wege. Er stand in dem – vielleicht ganz unbegründeten – Ruf, ein »kalter Mörder« zu sein, um ein einziges Wort würde er jeden Menschen umbringen. Ich glaube, dass dieser Ruf ganz unbegründet war; ich habe jedenfalls kein einziges Mal erlebt, dass er die Hand gegen einen anderen erhoben hätte.
Qual hatte einen wirklich großen Kummer: dass er seiner Ansicht nach nicht richtig Deutsch sprechen und schreiben konnte. Oft versicherte er mir, er würde all sein Essen von einer ganzen Woche für das Buch »Lies und schreib richtig Deutsch« hingeben. Dabei sprach er ein sehr viel besseres und gewählteres Deutsch als fast alle anderen Insassen im Bau, seine flüsternde und dabei doch heitere Sprechweise vermochte seinen Worten sogar eine Art von Charme zu verleihen.
Wenn ich, für den er eine gewisse Vorliebe gefasst hatte, ihm das zur Beruhigung seines Kummers versicherte, so sagte er lächelnd: »Nein, nein, ich weiß, was ich weiß. Und dabei hätte ich so gut Deutsch lernen können, ›uns’ Mudding‹ sprach ein so reines und schönes Deutsch, aber nie mit mir. Mit mir musste sie immer taltschen und albern, sie verdrehte jedes Wort auf die kindischste Weise. Das war sehr unrecht von ›uns’ Mudding‹; es hat mir im Leben viel geschadet, dass ich kein gutes Deutsch sprach. Sie hätten mich auch nie festnehmen können, wenn ich richtig Deutsch gesprochen hätte – wie konnten sie mich überhaupt festnehmen? Wer gab ihnen das Recht dazu?«
Die letzten Worte hatte er schon fast unhörbar zu sich selbst gesprochen, und nun hatte sich sein kranker Geist wieder in dem krausen Gespinst seiner wirren Gedanken verloren; von meiner Gegenwart wusste er nichts mehr.
Aber mit »uns’ Mudding« hatte es Qual oft, immer hatte er dann etwas an ihr auszusetzen: dass sie alles wegschenkte, dass sie sich nie Ruhe gönnte, dass sie überhaupt viel zu gut war. Aber alle diese Ausstellungen machte er mit einem so heiteren, leichten Ton, dass man gerade aus ihnen die Liebe des alternden Mannes zu der längst gestorbenen Mudding spürte; er sprach mit einer fröhlichen Überlegenheit von ihr und blieb dabei doch immer der gehorsame Sohn einer guten Mutter.
Qual war der Sohn eines Schlossermeisters in einer kleinen holsteinischen Stadt. Kurz vor dem Tode des Vaters hatte er, damals schon als Geselle in ihr arbeitend, die Schlosserei übernommen und als Meister weiter betrieben. Was ihn zu seiner bestialischen Tat getrieben, weiß ich nicht. Das alles lag schon zwei Jahrzehnte zurück, seitdem lebte Qual in festen Häusern. Auch bei uns arbeitete er in der Anstaltsschlosserei und genoss sogar eine gewisse Freiheit. Nie sagte ihm ein Beamter ein Wort, er verlangte allerdings auch nie etwas, war mit allem zufrieden.
Ich sehe ihn, da ich dies schreibe, wieder auf seinem Bett liegen, wie er es in jeder freien Minute tat – trotz des Verbots. Niemand sagte ihm deswegen auch etwas, vielleicht weil seine hinfällige Schwäche so sichtbar war. Neben dem Bett stehen seine Pantoffeln, er hat die Knie leicht angezogen und stützt den Kopf mit der schön gewölbten Stirn in die Hand. Manchmal sagte er dann langsam, in tiefe Gedanken verloren, vor sich hin: »Ich bekam ja keinen einzigen Auftrag mehr, und Not kennt kein Gebot …«
Vielleicht war wirklich Not der Schlüssel zu seiner Tat. Wie dem auch sei, ich habe den Mörder Qual gerne gemocht. Es hat mir wehgetan, als sie ihn eines Tages in den Anbau trugen, in die Sterbezelle, in der die meisten von uns ihr Leben beschließen werden. Er starb an der Tuberkulose, der Todesgeißel dieses Totenhauses.
52
Mein zweiter Schlafgenosse war der Kalfaktor Herbst, mein Nachfolger im Namen, ich habe ihn früher schon kurz erwähnt. Mit ihm schloss ich zuerst im Bau eine Art Freundschaft, die aber bald deswegen in die Brüche ging, weil bei mir nicht das Geringste zu holen war. Herbst, ein junger Bursche von fünfundzwanzig Jahren, der aber schon über fünf Jahre in unserem Bau war und vorher schon eine zweijährige Gefängnisstrafe in einem Jugendgefängnis abgerissen hatte, war eigentlich von Beruf Schlächter und nicht frei von jener unbedenklichen Brutalität, die man manchen Männern dieses Berufes nachsagen zu können glaubt.
Er war ein großer, stämmiger Bursche, mit einem langen, fetten Gesicht, fast toten, starrenden Augen und rotblondem Haar, an dem er jeden Morgen mindestens eine Viertelstunde herum kämmte und bürstete, zum lebhaften, aber aus weiser Vorsicht stumm ertragenen Ärger von uns anderen, denen er dabei in der engen Zelle ewig im Wege stand.
Herbstens Bart aber, ehe er am Sonnabend unter dem »Clipper« fiel, einer Rasiermaschine, die statt der verbotenen Klingen eingeführt war, war brennend rot. Das gab Anlass zu mancher niederträchtigen Anmerkung über den Charakter unseres Essenkalfaktors, Anmerkungen, die leider nur zu viel Berechtigung hatten.
Mit einer schamlosen Unbedenklichkeit ließ sich Herbst von allen Seiten Tabak und Lebensmittel zustecken, Seife, Obst – ohne je an eine Gegenleistung zu denken. Dem, der ihm am Tage vorher eine ganze Handvoll Tabak geschenkt hatte, verweigerte er grob am nächsten Tag ein paar Krümel, auf denen der Rauchhungrige ein bisschen kauen wollte.
Seine Stellung als Kalfaktor gab ihm dieses Übergewicht. Ich lernte bald, mit scharfen Augen zu beobachten, bei wem der Kalfaktor die Essenskelle stärker füllte. In einem Haus, in dem der Hunger ein unbarmherziges Regiment führt, hat der Essenverteiler leicht regieren. An sich war es natürlich verboten, dass der Kalfaktor selbst das Essen ausgab, das gehörte zu den Pflichten der Beamten. Aber die Beamten hatten oft zu viel Rennerei, oder sie waren auch gleichgültig. In diesem Hause hätte ein Engel vom Himmel herabsteigen und das Essen austeilen können, es wäre doch gemurrt worden. So ging alles seinen alten Lauf, und der Kalfaktor Herbst wurde stets fetter dabei.
Die besten Geschäfte machte er aber beim Brotschneiden und -schmieren. Ich habe es schon gesagt, auch dabei sollte ein Beamter anwesend sein, aber Herbst nutzte jede kurze