Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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kaum. Aber sie mer­ken gar nicht, dass sie so schweig­sam sind, auch Anna nicht. Bei­de sind müde, ganz als hät­ten sie eine schwe­re Ar­beit hin­ter sich oder als sei eine wei­te Rei­se ge­tan.

      Er sagt, vom Es­sen auf­ste­hend: »Ich lege mich dann gleich hin.«

      Und sie: »Ich mach bloß noch die Kü­che. Dann komm ich auch. Gott, wie müde ich bin, und wir ha­ben doch nichts ge­tan!«

      Er sieht sie mit ei­nem hal­b­en Lä­cheln an, dann geht er schnell in die Schlaf­stu­be und fängt an, sich aus­zu­zie­hen.

      Aber dann, als sie bei­de lie­gen, als es dun­kel ist, kön­nen sie bei­de nicht ein­schla­fen. Sie wäl­zen sich hin und her, sie hor­chen auf den Atem des an­de­ren, und schließ­lich fan­gen sie an zu re­den. In der Dun­kel­heit spricht es sich bes­ser.

      »Was meinst du«, fragt Anna, »was mit un­sern Kar­ten ge­schieht?«

      »Alle wer­den zu­erst einen Schreck be­kom­men, wenn sie die­se Kar­ten da­lie­gen se­hen und die ers­ten Wor­te le­sen. Alle ha­ben doch heu­te Angst.«

      »Ja«, sagt sie. »Alle …«

      Aber sie nimmt sie bei­de, die Quan­gels, aus. Fast alle ha­ben Angst, denkt sie. Wir nicht.

      »Die Fin­der«, wie­der­holt er hun­dert­mal Durch­dach­tes, »wer­den Angst ha­ben, dass sie auf der Trep­pe be­ob­ach­tet wor­den sind. Sie wer­den die Kar­te schnell fort­ste­cken und weg­lau­fen. Oder sie le­gen sie auch wie­der hin und ver­drücken sich, und der Nächs­te kommt …«

      »So wird es sein«, sagt Anna, und sie sieht das Trep­pen­haus vor sich, ir­gend solch ein Ber­li­ner Trep­pen­haus, schlecht be­leuch­tet, und je­der, der eine sol­che Kar­te in der Hand hat, wird sich plötz­lich füh­len, als sei er ein Ver­bre­cher. Weil ei­gent­lich je­der denkt wie die­ser Kar­ten­schrei­ber und doch nicht so den­ken darf, weil Tod auf sol­chem Den­ken steht …

      »Man­che«, fährt Quan­gel fort, »wer­den die Kar­te auch so­fort ab­ge­ben, an den Block­wart oder die Po­li­zei: nur schnell fort mit ihr! Aber auch das macht nichts aus, ob in der Par­tei oder nicht, ob Po­li­ti­scher Lei­ter oder Po­li­zist, sie alle wer­den die Kar­te le­sen, sie wird Wir­kung in ih­nen tun. Und wenn sie nur die eine Wir­kung tut, dass sie wie­der ein­mal er­fah­ren, es ist noch Wi­der­stand da, nicht alle fol­gen die­sem Füh­rer …«

      »Nein«, sagt sie. »Nicht alle. Wir nicht.«

      »Und es wer­den mehr wer­den, Anna. Durch uns wer­den es mehr wer­den. Vi­el­leicht brin­gen wir an­de­re auf den Ge­dan­ken, sol­che Kar­ten zu schrei­ben, wie ich es tue. Schließ­lich wer­den Dut­zen­de, Hun­der­te sit­zen wie ich und schrei­ben. Wir wer­den Ber­lin mit die­sen Kar­ten über­schwem­men, wir wer­den den Gang der Ma­schi­nen hem­men, wir wer­den den Füh­rer stür­zen, den Krieg be­en­den …«

      Er hält inne, be­stürzt von sei­nen ei­ge­nen Wor­ten, von die­sen Träu­men, die sein küh­les Herz so spät noch auf­su­chen.

      Aber Anna Quan­gel sagt, be­geis­tert von die­ser Vi­si­on: »Und wir wer­den die Ers­ten ge­we­sen sein! Nie­mand wird es wis­sen, aber wir wis­sen es.«

      Er sagt plötz­lich nüch­tern: »Vi­el­leicht den­ken schon vie­le so wie wir, Tau­sen­de von Män­nern müs­sen schon ge­fal­len sein. Vi­el­leicht gibt es schon sol­che Kar­ten­schrei­ber. Aber das ist egal, Anna! Was geht es uns an? Wir tun dies!«

      »Ja«, sagt sie.

      Und er, noch ein­mal hin­ge­ris­sen von den Aus­sich­ten des be­gon­ne­nen Un­ter­neh­mens: »Und wir wer­den die Po­li­zei in Gang set­zen, die Ge­sta­po, die SS, die SA. Über­all wird man von dem ge­heim­nis­vol­len Kar­ten­schrei­ber spre­chen, sie wer­den fahn­den, ver­däch­ti­gen, be­ob­ach­ten, Haus­su­chun­gen ma­chen – ver­geb­lich! Wir schrei­ben wei­ter, im­mer wei­ter!«

      Und sie: »Vi­el­leicht wer­den sie dem Füh­rer selbst sol­che Kar­ten vor­le­gen – er selbst wird sie le­sen, wir kla­gen ihn an! Er wird to­ben! Er soll doch im­mer gleich to­ben, wenn was nicht nach sei­nem Wil­len geht. Er wird be­feh­len, uns zu fin­den, und sie wer­den uns nicht fin­den! Er wird wei­ter un­se­re An­kla­gen le­sen müs­sen!«

      Sie schwei­gen bei­de, bei­de ge­blen­det von die­sem Aus­blick. Was wa­ren sie eben noch? Un­be­kann­te Exis­ten­zen; im großen, dunklen Ge­wim­mel hat­ten sie mit­ge­wim­melt. Und nun sind sie bei­de ganz al­lein, ge­trennt, er­ho­ben vor den an­de­ren, mit kei­nem von ih­nen zu ver­wech­seln. Es ist Ei­ses­käl­te um sie, so al­lein sind sie.

      Und Quan­gel sieht sich in der Werk­statt ste­hen, wie im­mer im glei­chen Ge­trie­be, trei­bend und ge­trie­ben, den Kopf acht­sam, ruck­wei­se von Ma­schi­ne zu Ma­schi­ne ge­dreht. Für die wird er im­mer der olle doofe Quan­gel sein, nur von sei­ner Ar­beit und sei­nem schmut­zi­gen Geiz be­ses­sen. In sei­nem Kopf aber hat er Ge­dan­ken, wie sie kei­ner von ih­nen hat. Je­der von ih­nen wür­de vor Angst um­kom­men, wenn er sol­che Ge­dan­ken hät­te. Er aber, der duss­li­ge olle Quan­gel, er hat sie. Er steht da und täuscht sie alle.

      Anna Quan­gel aber denkt jetzt an den Weg, den sie mor­gen bei­de ge­hen wer­den, die ers­te Kar­te fort­zu­brin­gen. Sie ist et­was un­zu­frie­den mit sich, dass sie nicht dar­auf be­stan­den hat, mit Quan­gel ins Haus hin­ein­zu­ge­hen. Sie über­legt, ob sie ihn nicht noch ein­mal dar­um bit­ten soll. Vi­el­leicht. Im All­ge­mei­nen ist Otto Quan­gel durch Bit­ten nicht um­zu­stim­men. Aber viel­leicht heu­te Abend, da er so un­ge­wöhn­lich hei­te­rer Lau­ne zu sein scheint? Vi­el­leicht gleich jetzt?

      Aber es dau­ert zu lan­ge, bis sie sich ent­schlos­sen hat. Da merkt sie: Quan­gel ist schon ein­ge­schla­fen. So schickt auch sie sich an zu schla­fen, sie wird se­hen, ob es mor­gen passt. Wenn es passt, wird sie be­stimmt fra­gen.

      Und dann schläft auch sie ein.

      19. Die erste Karte wird abgelegt

      Sie wagt es erst auf der Stra­ße, ihm da­von zu spre­chen, so wort­karg war Otto an die­sem Vor­mit­tag. »Wo willst du die Kar­te hin­brin­gen, Otto?«

      Er ant­wor­tet mür­risch: »Sprich jetzt nicht da­von. Nicht jetzt auf der Stra­ße.«

      Und dann setzt er doch noch wi­der­wil­lig hin­zu: »Ich habe mir ein Haus in der Greifs­wal­der Stra­ße aus­ge­sucht.«

      »Nein«, sagt sie ent­schie­den. »Nein, tu das nicht, Otto. Das ist falsch, was du da tun willst!«

      »Komm!«, sagt er böse, denn sie ist ste­hen ge­blie­ben. »Ich sage dir doch, nicht hier auf der Stra­ße!«

      Er geht wei­ter, sie folgt ihm und be­steht auf ih­rem Recht mit­zu­spre­chen. »Nicht so in der Nähe un­se­rer Woh­nung«, be­tont sie. »Wenn die­se Sa­che de­nen in die Hän­de fällt, ha­ben sie gleich einen Fin­ger­zeig über die Ge­gend. Lass uns bis zum Alex run­ter­ge­hen …«

      Er denkt nach, er über­legt. Vi­el­leicht, nein, si­cher hat sie recht. Man muss mit al­lem rech­nen. Und doch, die­ses plötz­li­che Umän­dern sei­ner Plä­ne passt ihm nicht recht. Wenn sie jetzt bis zum Alex lau­fen, wird die Zeit sehr knapp, und er muss doch zum Ar­beits­be­ginn zu­recht­kom­men. Auch weiß er kein pas­sen­des Haus am Alex. Si­cher gibt es dort vie­le, aber man muss das rich­ti­ge erst su­chen, und das tut er lie­ber al­lein als mit der Frau, die ihn da­bei stört.

      Dann, ganz plötz­lich, ent­schließt er sich. »Gut«, sagt er. »Du hast recht, Anna. Ge­hen wir zum