kaum. Aber sie merken gar nicht, dass sie so schweigsam sind, auch Anna nicht. Beide sind müde, ganz als hätten sie eine schwere Arbeit hinter sich oder als sei eine weite Reise getan.
Er sagt, vom Essen aufstehend: »Ich lege mich dann gleich hin.«
Und sie: »Ich mach bloß noch die Küche. Dann komm ich auch. Gott, wie müde ich bin, und wir haben doch nichts getan!«
Er sieht sie mit einem halben Lächeln an, dann geht er schnell in die Schlafstube und fängt an, sich auszuziehen.
Aber dann, als sie beide liegen, als es dunkel ist, können sie beide nicht einschlafen. Sie wälzen sich hin und her, sie horchen auf den Atem des anderen, und schließlich fangen sie an zu reden. In der Dunkelheit spricht es sich besser.
»Was meinst du«, fragt Anna, »was mit unsern Karten geschieht?«
»Alle werden zuerst einen Schreck bekommen, wenn sie diese Karten daliegen sehen und die ersten Worte lesen. Alle haben doch heute Angst.«
»Ja«, sagt sie. »Alle …«
Aber sie nimmt sie beide, die Quangels, aus. Fast alle haben Angst, denkt sie. Wir nicht.
»Die Finder«, wiederholt er hundertmal Durchdachtes, »werden Angst haben, dass sie auf der Treppe beobachtet worden sind. Sie werden die Karte schnell fortstecken und weglaufen. Oder sie legen sie auch wieder hin und verdrücken sich, und der Nächste kommt …«
»So wird es sein«, sagt Anna, und sie sieht das Treppenhaus vor sich, irgend solch ein Berliner Treppenhaus, schlecht beleuchtet, und jeder, der eine solche Karte in der Hand hat, wird sich plötzlich fühlen, als sei er ein Verbrecher. Weil eigentlich jeder denkt wie dieser Kartenschreiber und doch nicht so denken darf, weil Tod auf solchem Denken steht …
»Manche«, fährt Quangel fort, »werden die Karte auch sofort abgeben, an den Blockwart oder die Polizei: nur schnell fort mit ihr! Aber auch das macht nichts aus, ob in der Partei oder nicht, ob Politischer Leiter oder Polizist, sie alle werden die Karte lesen, sie wird Wirkung in ihnen tun. Und wenn sie nur die eine Wirkung tut, dass sie wieder einmal erfahren, es ist noch Widerstand da, nicht alle folgen diesem Führer …«
»Nein«, sagt sie. »Nicht alle. Wir nicht.«
»Und es werden mehr werden, Anna. Durch uns werden es mehr werden. Vielleicht bringen wir andere auf den Gedanken, solche Karten zu schreiben, wie ich es tue. Schließlich werden Dutzende, Hunderte sitzen wie ich und schreiben. Wir werden Berlin mit diesen Karten überschwemmen, wir werden den Gang der Maschinen hemmen, wir werden den Führer stürzen, den Krieg beenden …«
Er hält inne, bestürzt von seinen eigenen Worten, von diesen Träumen, die sein kühles Herz so spät noch aufsuchen.
Aber Anna Quangel sagt, begeistert von dieser Vision: »Und wir werden die Ersten gewesen sein! Niemand wird es wissen, aber wir wissen es.«
Er sagt plötzlich nüchtern: »Vielleicht denken schon viele so wie wir, Tausende von Männern müssen schon gefallen sein. Vielleicht gibt es schon solche Kartenschreiber. Aber das ist egal, Anna! Was geht es uns an? Wir tun dies!«
»Ja«, sagt sie.
Und er, noch einmal hingerissen von den Aussichten des begonnenen Unternehmens: »Und wir werden die Polizei in Gang setzen, die Gestapo, die SS, die SA. Überall wird man von dem geheimnisvollen Kartenschreiber sprechen, sie werden fahnden, verdächtigen, beobachten, Haussuchungen machen – vergeblich! Wir schreiben weiter, immer weiter!«
Und sie: »Vielleicht werden sie dem Führer selbst solche Karten vorlegen – er selbst wird sie lesen, wir klagen ihn an! Er wird toben! Er soll doch immer gleich toben, wenn was nicht nach seinem Willen geht. Er wird befehlen, uns zu finden, und sie werden uns nicht finden! Er wird weiter unsere Anklagen lesen müssen!«
Sie schweigen beide, beide geblendet von diesem Ausblick. Was waren sie eben noch? Unbekannte Existenzen; im großen, dunklen Gewimmel hatten sie mitgewimmelt. Und nun sind sie beide ganz allein, getrennt, erhoben vor den anderen, mit keinem von ihnen zu verwechseln. Es ist Eiseskälte um sie, so allein sind sie.
Und Quangel sieht sich in der Werkstatt stehen, wie immer im gleichen Getriebe, treibend und getrieben, den Kopf achtsam, ruckweise von Maschine zu Maschine gedreht. Für die wird er immer der olle doofe Quangel sein, nur von seiner Arbeit und seinem schmutzigen Geiz besessen. In seinem Kopf aber hat er Gedanken, wie sie keiner von ihnen hat. Jeder von ihnen würde vor Angst umkommen, wenn er solche Gedanken hätte. Er aber, der dusslige olle Quangel, er hat sie. Er steht da und täuscht sie alle.
Anna Quangel aber denkt jetzt an den Weg, den sie morgen beide gehen werden, die erste Karte fortzubringen. Sie ist etwas unzufrieden mit sich, dass sie nicht darauf bestanden hat, mit Quangel ins Haus hineinzugehen. Sie überlegt, ob sie ihn nicht noch einmal darum bitten soll. Vielleicht. Im Allgemeinen ist Otto Quangel durch Bitten nicht umzustimmen. Aber vielleicht heute Abend, da er so ungewöhnlich heiterer Laune zu sein scheint? Vielleicht gleich jetzt?
Aber es dauert zu lange, bis sie sich entschlossen hat. Da merkt sie: Quangel ist schon eingeschlafen. So schickt auch sie sich an zu schlafen, sie wird sehen, ob es morgen passt. Wenn es passt, wird sie bestimmt fragen.
Und dann schläft auch sie ein.
19. Die erste Karte wird abgelegt
Sie wagt es erst auf der Straße, ihm davon zu sprechen, so wortkarg war Otto an diesem Vormittag. »Wo willst du die Karte hinbringen, Otto?«
Er antwortet mürrisch: »Sprich jetzt nicht davon. Nicht jetzt auf der Straße.«
Und dann setzt er doch noch widerwillig hinzu: »Ich habe mir ein Haus in der Greifswalder Straße ausgesucht.«
»Nein«, sagt sie entschieden. »Nein, tu das nicht, Otto. Das ist falsch, was du da tun willst!«
»Komm!«, sagt er böse, denn sie ist stehen geblieben. »Ich sage dir doch, nicht hier auf der Straße!«
Er geht weiter, sie folgt ihm und besteht auf ihrem Recht mitzusprechen. »Nicht so in der Nähe unserer Wohnung«, betont sie. »Wenn diese Sache denen in die Hände fällt, haben sie gleich einen Fingerzeig über die Gegend. Lass uns bis zum Alex runtergehen …«
Er denkt nach, er überlegt. Vielleicht, nein, sicher hat sie recht. Man muss mit allem rechnen. Und doch, dieses plötzliche Umändern seiner Pläne passt ihm nicht recht. Wenn sie jetzt bis zum Alex laufen, wird die Zeit sehr knapp, und er muss doch zum Arbeitsbeginn zurechtkommen. Auch weiß er kein passendes Haus am Alex. Sicher gibt es dort viele, aber man muss das richtige erst suchen, und das tut er lieber allein als mit der Frau, die ihn dabei stört.
Dann, ganz plötzlich, entschließt er sich. »Gut«, sagt er. »Du hast recht, Anna. Gehen wir zum