Da sei vermutlich eine genaue Nachprüfung fällig! Jawohl, um Verzeihung habe diese Quangel-Quingel-Quungel seine Frau zu bitten! Heute Abend noch, er müsse doch sehr bitten! Er verlange auch sofortige Meldung von dem Geschehenen!
Als der Obersturmbannführer schließlich anhängte, war er nicht nur blaurot im Gesicht, sondern er war jetzt auch fest davon überzeugt, unverzeihlich schwer beleidigt worden zu sein. Er rief sofort seine süße Claire an, musste es aber mindestens zehnmal versuchen, ehe er eine Verbindung mit ihr bekam, denn sie war jetzt eifrig dabei, ihre Freundinnen von der ihr angetanen Schmach zu benachrichtigen.
Das von ihrem Manne aber geführte Telefongespräch sickerte ein in das Netz von Berlin, es breitete sich aus, es lief hierhin und dorthin, Erkundigungen wurden eingezogen, Nachfragen wurden gehalten, streng vertraulich wurde geflüstert. Manchmal schien das Gespräch ganz von seinem ursprünglichen Ziele abgekommen, aber dank der Trefflichkeit und Unfehlbarkeit des Selbstwählersystems fand es immer wieder zurück, bis es schließlich, zu einer Lawine vergrößert, jene kleine Geschäftsstelle der Frauenschaft fand, der Anna Quangel unterstellt war. Dort hatten zurzeit zwei Damen (ehrenamtlich) Dienst, die eine weißhaarig und dürr, mit dem Mutterkreuz geschmückt, die andere mollig und noch jung, aber mit Herrenschnitt und dem Parteiabzeichen auf der schwellenden Brust versehen.
Die Weißhaarige hatte es erwischt, sie hatte zuerst zum Telefon gegriffen, über sie stürzte diese Lawine zuerst dahin. Sie wurde völlig überschüttet von ihr, sie ruderte hilflos mit den Armen, sie warf flehende Blicke auf die Mollige, sie versuchte kleine Bemerkungen einzuschieben: »Aber die Quangel – eine ganz zuverlässige Frau. Kenne sie seit Jahren …«
Umsonst, nichts konnte sie retten! Kein Blatt wurde, auch bei der Frauenschaft nicht, vor den Mund genommen, es wurde ihr klargemacht, was für eine Sauwirtschaft auf ihrer Geschäftsstelle herrsche. Sie könne sich gratulieren, wenn sie da einigermaßen mit sauberer Weste herauskam! Aber was diese Quangel angehe – natürlich heute noch und für immer und ewig absetzen und um Verzeihung bitten, heute noch! Jawohl, Heil Hitler!
Und kaum hatte die Weißhaarige angehängt und begann, noch an allen Gliedern zitternd, der Molligen einen Bericht zu machen, so schrillte wieder das Telefon, und eine andere vorgesetzte Dienststelle fühlte sich ebenfalls berufen, zu schreien, zu schelten, zu drohen.
Diesmal hatte es die Mollige getroffen. Auch sie wankte unter diesem Anprall, auch sie zitterte, denn wenn sie auch schon in der Partei war, ihr Mann galt als politisch unzuverlässig, weil er als Anwalt vor 1933 öfters ›Rote‹ vor Gericht verteidigt hatte. So eine Sache konnte ihnen den Hals brechen. Sie versuchte es mit Demut, Bereitwilligkeit, tiefster Ergebenheit. »Jawohl, ein bedauerliches Versehen … Diese Frau muss wahnsinnig geworden sein … Natürlich, es wird alles geschehen, heute Abend noch. Ich gehe selber …«
Umsonst, alles umsonst! Die Lawine stürzte auch über sie nieder und zerbrach ihr jeden Knochen im Leibe. Sie war nur noch ein nasser Lappen.
Und nun folgte Anruf auf Anruf. Es war, als sei die Hölle hereingebrochen! Sie bekamen kaum noch Atem, so rasch folgte ein Anruf dem anderen. Schließlich flohen sie aus diesem Büro, einfach unfähig, diese ständig wiederholten Beschimpfungen weiter anzuhören. Noch als sie die Tür abschlossen, hörten sie das Telefon nach immer neuer Beute schreien, aber sie gingen nicht wieder zurück. Sie nicht, für kein Geld der Welt! Ihr Bedarf war eingedeckt für heute, für morgen, für die nächsten Jahre!
Eine Weile marschierten sie schweigend ihrem Ziele, der Quangel’schen Wohnung, zu. Dann sagte die eine: »Der werde ich es aber geben, uns derartige Schwierigkeiten zu bereiten!«
Und die mit dem Parteiabzeichen: »So ist es. Die Quangel kann uns ganz egal sein! Aber Sie wissen ja, man hat auch so schon viel zu viel Schwierigkeiten …«
»Gewiss!«, sagte das Mutterkreuz kurz und dachte an einen Sohn, der in Spanien, aber auf der falschen, nämlich auf der roten Seite gekämpft hatte.
Aber die Unterhaltung mit Frau Anna Quangel verlief dann doch wesentlich anders, als die beiden erwartet hatten. Frau Quangel ließ sich weder andonnern noch einschüchtern.
»Erklären Sie mir bloß erst, was ich falsch gemacht habe. Hier sind meine Notizen. Die Frau Gerich fällt unter das Arbeitsdienstpflicht-Gesetz …«
»Aber, Liebste, Beste« – dies sagte die Mollige – »darum handelt es sich hier doch gar nicht. Sie ist die Gattin eines Obersturmbannführers. Sie verstehen doch?«
»Nein! Was hat das damit zu tun? Wo steht geschrieben, dass die Frauen von höheren Führern frei sind? Ich weiß davon nichts!«
»Seien Sie bloß nicht so begriffsstutzig!«, meinte die Weißhaarige streng. »Als Frau eines höheren Führers hat Frau Gerich höhere Pflichten. Sie muss für ihren überarbeiteten Mann sorgen.«
»Muss ich auch.«
»Sie hat große Repräsentationspflichten.«
»Was ist denn das?«
Nichts zu machen mit der Frau, nichts mir ihr anzufangen, sie sieht ihr Unrecht nicht ein. Sie will einfach nicht begreifen, dass höhere Führer mit all ihren Anverwandten von all ihren Pflichten gegen den Staat und die Gemeinschaft befreit sind.
Die Mollige mit dem Hakenkreuz ist es, die den wirklichen Grund für Frau Anna Quangels Hartnäckigkeit zu ermitteln meint. Sie entdeckt das Foto eines blässlich, unterernährt aussehenden Jungen an der Wand, mit einem Kranz und einer Trauerschleife geschmückt. »Ihr Sohn?«, fragt sie.
»Ja«, antwortet Anna Quangel kurz und verdrossen.
»Ihr einziger – gefallen?«
»Ja.«
Die Weißhaarige mit dem Mutterkreuz sagt milde: »Man soll eben nicht nur einen Sohn in die Welt setzen!«
Anna Quangel hat eine hastige Antwort auf der Zunge. Aber sie verkneift sie sich noch. Sie will nicht jetzt noch alles verderben.
Die beiden Damen tauschen einen Blick. Ihnen ist alles klar. Diese Frau hat den einzigen Sohn verloren, und da sieht sie solch eine Dame, von der sie meint, sie will sich einer kleinen Pflicht entziehen, nicht das geringste Opfer bringen … So was muss ja schiefgehen.
Die Mollige sagt: »Sie werden sich doch entschließen, eine kleine Entschuldigung vorzubringen?«
»Sobald Sie mir bewiesen haben, dass ich im Unrecht bin.«
Die