wollte. Und wenn ich’s nicht tun kann, will ich auch nicht davon sprechen. Vielleicht anderen Sonntag. Horchst du? Ja, da schleicht wohl schon wieder einer von den Persickes über die Treppe – na, lass sie! Wenn sie uns nur in Frieden lassen!«
Aber Otto Quangel war ungewöhnlich weich an diesem Sonntag. Anna durfte so viel von dem gefallenen Sohn reden, wie sie wollte, er verbot ihr nicht den Mund. Er sah sogar mit ihr die wenigen Fotos durch, die sie von dem Sohne besaß, und als sie dabei wieder zu weinen anfing, legte er ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Lass, Mutter, lass. Wer weiß, wozu’s gut ist, was ihm alles erspart bleibt.«
Also: dieser Sonntag war auch ohne Aussprache gut. Lange hatte Anna Quangel den Mann nicht so milde gesehen, es war, als schiene die Sonne noch einmal, ein letztes Mal über das Land, ehe der Winter kam, der alles Leben unter seiner Eis- und Schneedecke verbarg. In den nächsten Monaten, die Quangel immer kälter und wortkarger machten, musste sie oft an diesen Sonntag zurückdenken, er war ihr Trost und Aufmunterung zugleich.
Dann fing die Arbeitswoche wieder an, eine dieser immer gleichen Arbeitswochen, die eine der anderen ähnelten, ob nun Blumen blühten oder Schnee draußen trieb. Die Arbeit war immer die gleiche, und die Menschen blieben auch, wie sie gewesen waren.
Nur ein kleines Erlebnis, ein ganz kleines, hatte Otto Quangel in dieser Arbeitswoche. Als er zur Fabrik ging, kam ihm in der Jablonskistraße der Kammergerichtsrat a.D. Fromm entgegen. Quangel hätte ihn schon gegrüßt, aber er scheute die Augen der Persickes. Er wollte auch nicht, dass Barkhausen, von dem Anna ihm erzählt hatte, die Gestapo habe ihn mitgenommen, etwas sähe. Der Barkhausen war nämlich wieder da, wenn er überhaupt je fortgewesen war, und hatte sich vor dem Hause herumgedrückt.
So ging denn Quangel stur, ohne ihn zu sehen, an dem Kammergerichtsrat vorbei. Der hatte wohl nicht so viele Bedenken, jedenfalls lüftete er leicht seinen Hut vor dem Mitbewohner des Hauses, lächelte mit den Augen und ging ins Haus.
Grade recht!, dachte Quangel. Wer’s gesehen hat, denkt: der Quangel bleibt immer der gleiche rohe Klotz, und der Kammergerichtsrat ist ein feiner Mann. Aber dass die beiden was miteinander zu tun hatten, das denkt er nicht!
Anna Quangel aber hatte in dieser Woche noch eine schwierige Arbeit zu erledigen. Beim Einschlafen am Sonntag hatte ihr der Mann noch gesagt: »Sieh, dass du aus der Frauenschaft rauskommst. Aber so, dass es keinem auffällt. Ich bin auch meinen Posten bei der Arbeitsfront los.«
»Oh Gott!«, rief sie. »Wie hast du das denn gemacht, Otto? Wieso haben die dich gehen lassen?«
»Wegen angeborener Körperdoofheit«, hatte Quangel ungewöhnlich aufgeräumt geantwortet und damit diese Unterhaltung beendet.
Sie aber hatte ihre Aufgabe nun vor sich. Wegen Doofheit würden die sie nie laufenlassen, dafür kannten sie die Quangel zu gut, ihr musste schon etwas anderes einfallen. Den Montag und Dienstag grübelte Anna Quangel darüber, am Mittwoch glaubte sie es schließlich zu haben. Wenn Doofheit bei ihr nicht verfing, dann vielleicht Überklugheit. Überklugheit, zu viel wissen, zu schlau sein, das war denen noch lästiger als ein bisschen Doofheit. Und Überklugheit, gepaart mit Übereifer, ja, so musste es gehen.
Und kurz entschlossen machte sich Anna Quangel auf den Weg. Sie wollte diese Sache möglichst schnell hinter sich bringen, sie wollte, wenn es irgend ging, heute Nacht noch Otto melden, dass sie es wie er geschafft hatte, das heißt, ohne parteipolitisch missliebig aufgefallen zu sein. Sie musste es denen für immer vergällen, sich mit ihr zu beschäftigen. Schon wenn denen die Quangel einfiel, sollten sie nur denken: ›Ach, die kommt für so was nicht in Frage!‹, was dieses Sowas auch sein mochte!
Zu Anna Quangels Hauptaufgaben gehörte es in diesen Tagen, da der Zwangsarbeiter-Import noch nicht recht in Gang gekommen war und noch kein Sonderbeauftragter des Führers mit Ministerrang für diese Sklavengeschäfte ernannt worden war – zu ihren Hauptaufgaben also gehörte es, unter ihren deutschen Volksgenossinnen solche zu ermitteln, die sich vor der Arbeit in den Rüstungswerken drückten, die damit, wie es in der üblichen Parteiterminologie hieß, zu Verrätern am Führer und am eigenen Volk wurden. Grade erst kürzlich hatte das Ministerchen Goebbels1 in einem Artikel hämisch auf jene geschminkten Dämchen hingewiesen, deren rotlackierte Fingernägel sie noch lange nicht von der Arbeit für das Volk – und nicht etwa nur von Büroarbeit! – frei machten.
Freilich hatte der Minister in einem weiteren Artikel, der wohl von den Damen seines eigenen Kreises erzwungen worden war, sich beeilt, hinzuzufügen, dass rote Fingernägel und ein gepflegtes Äußeres nicht ohne Weiteres die Merkmale einer Asozialen und Arbeitsscheuen seien. Er warnte dringend vor Anrempelungen nur aus solchen Gründen! Die Partei werde in ihrer Gerechtigkeit jeden einzelnen ihr gemeldeten Fall nachprüfen. Womit er einer wohl beabsichtigten Hochflut von Denunziationen Tür und Tor öffnete.
Aber wie so oft schon vorher und nachher hatte der Minister mit seinem ersten Artikel die niedersten Pöbelinstinkte wachgerufen, und Anna Quangel sah hier ohne Weiteres ihre Möglichkeiten. Zwar wohnten in ihrem Bezirk meist nur schlichte Leute, aber eine Dame wusste sie doch, auf die jene Beschreibung des Ministers haargenau passte. Anna Quangel lächelte schon im Voraus bei dem Gedanken, welche Wirkung ihr Besuch wohl haben würde.
Die von ihr aufgesuchte Dame wohnte in einem großen Hause am Friedrichshain, und Frau Quangel sagte zu dem öffnenden Mädchen mit Barschheit, durch die sie ihre eigene, sie plötzlich heimsuchende Unsicherheit verstecken wollte: »Ach was, nachsehen, ob die gnädige Frau zu sprechen ist! Ich komme von der Frauenschaft, und ich muss sie sprechen, und ich werde es auch! – Übrigens, Fräulein«, setzte sie plötzlich mit gesenkter Stimme hinzu, »wieso gnädige Frau? So was gibt es doch im Dritten Reich gar nicht mehr! Wir arbeiten alle für unsern geliebten Führer – jedes an seinem Platz! Ich will zu Frau Gerich!«
Es bleibt ungewiss, warum Frau Gerich diese Gesandtin der NS-Frauenschaft empfing, ob doch leise beunruhigt durch den Bericht ihres Mädchens oder ob einfach aus Langerweile, die halbe Stunde eines öden Nachmittags zu verkürzen. Jedenfalls empfing sie Frau Quangel.
Sie kam ihr mit einem liebenswürdigen Lächeln bis in die Mitte ihres üppigen Salons entgegen, und Frau Quangel stellte mit einem Blick fest, dass Frau Gerich wirklich das Geschöpf war, das sie suchte: eine langbeinige Blondine, zurechtgemacht und parfümiert, über der Stirn ein hoher Aufbau von Locken und Löckchen. Die Hälfte davon falsch!, entschied Anna Quangel sofort. Diese Feststellung gab ihr ein wenig von ihrer Sicherheit