Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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Pro­fil, der dün­ne, fast stets ge­schlos­se­ne Mund – das er­schreckt sie nicht mehr. So sieht eben der Mann aus, dem sie ihr gan­zes Le­ben ge­weiht hat. Es kommt nicht auf das Aus­se­hen an …

      Aber an die­sem Mor­gen scheint ihr doch, als sei das Ge­sicht noch schär­fer ge­wor­den, der Mund noch schma­ler, als hät­ten sich die Fal­ten von der Nase her noch mehr ver­tieft. Er hat Sor­gen, schwe­re Sor­gen, und sie hat es ver­säumt, recht­zei­tig mit ihm dar­über zu spre­chen, ihm die Last tra­gen zu hel­fen. An die­sem Sonn­tag­mor­gen, vier Tage nach­dem sie die Nach­richt vom Tode des Soh­nes be­kom­men hat, ist Anna Quan­gel wie­der fest da­von über­zeugt, nicht nur, dass sie bei die­sem Man­ne wie bis­her aus­zu­hal­ten hat, son­dern dass sie auch im Un­recht war, über­haupt erst mit die­ser Trot­ze­rei an­zu­fan­gen. Sie hät­te ihn bes­ser ken­nen müs­sen: er schwieg lie­ber, als dass er sprach. Sie muss­te ihn stets er­mun­tern, ihm die Zun­ge lö­sen – von selbst sprach die­ser Mann nie.

      Nun, heu­te wird er spre­chen. Er hat­te es ihr zu­ge­sagt, heu­te in der Nacht, als er von der Ar­beit heim­ge­kom­men war. Anna hat­te da einen schlim­men Tag hin­ter sich ge­bracht. Als er ganz ohne Früh­stück los­ge­lau­fen war, als sie Stun­den ver­geb­lich auf ihn ge­war­tet hat­te, als er auch nicht zum Mit­ta­ges­sen er­schie­nen war, als ihr klar wur­de, jetzt hat­te sei­ne Ar­beit schon be­gon­nen, jetzt wür­de er be­stimmt nicht mehr kom­men – da war sie völ­lig ver­zwei­felt ge­we­sen.

      Was war in die­sen Mann ge­fah­ren, seit sie je­nes vor­schnel­le, un­be­dach­te Wort ge­sagt hat­te? Was trieb ihn so ru­he­los um? Sie kann­te ihn doch: Seit­dem sie das ge­sagt hat­te, sann er nur dar­auf, ihr zu zei­gen, dass der nicht »sein« Füh­rer war. Als wenn sie es je ernst­lich so ge­meint hät­te! Sie hät­te es ihm sa­gen müs­sen, dass sie das Wort nur im ers­ten trau­ern­den Zorn ge­sagt hat­te. Sie hät­te auch ganz an­de­re Din­ge sa­gen kön­nen ge­gen die­se Ver­bre­cher, die sie so sinn­los des Soh­nes be­raubt hat­ten – gra­de die­ses Wort muss­te ihr her­aus­fah­ren!

      Aber nun hat­te sie eben gra­de dies ge­sagt, und nun lief er in der Welt um­her und be­gab sich in alle mög­li­chen Ge­fah­ren, um recht zu be­hal­ten, um ihr das Un­recht, das sie ihm an­ge­tan, noch ganz hand­greif­lich zu be­wei­sen! Wo­mög­lich kam er gar nicht wie­der. Hat­te et­was ge­sagt oder ge­tan, was die Werk­lei­tung oder die Ge­sta­po auf ihn hetz­te – wo­mög­lich saß er schon im Loch! So un­ru­hig, wie die­ser ru­hi­ge Mann schon am frü­hen Mor­gen ge­we­sen war!

      Anna Quan­gel hält es nicht aus, so ta­ten­los kann sie nicht mehr auf ihn war­ten. Sie macht ein paar Stul­len zu­recht und tritt den Weg zu sei­ner Fa­brik an. Auch dar­in ist sie ganz sein ge­treu­es Ehe­weib, dass sie selbst jetzt, wo es ihr auf jede Mi­nu­te, die sie frü­her Ge­wiss­heit hat, an­kommt, nicht die Bahn be­nutzt. Nein, sie geht zu Fuß – sie spart den Gro­schen wie er.

      Vom Pfört­ner der Mö­bel­fa­brik er­fährt sie dann, dass der Werk­meis­ter Quan­gel pünkt­lich wie im­mer auf sei­ne Ar­beits­stel­le ge­kom­men ist. Sie lässt ihm durch einen Bo­ten die »ver­ges­se­nen« Stul­len hin­ein­schi­cken und war­tet auch noch die Rück­kehr des Bo­ten ab.

      »Nun, was hat er ge­sagt?«

      »Was soll er denn ge­sagt ha­ben …? Der sagt doch nie was!«

      Jetzt kann sie be­ru­hig­ter nach Haus ge­hen. Es ist noch nichts ge­sche­hen, trotz all sei­ner Un­ru­he am Mor­gen nicht. Und heu­te Abend wird sie mit ihm spre­chen …

      Er kommt in der Nacht. Sie sieht sei­nem Ge­sicht an, wie müde er ist.

      »Otto«, sagt sie bit­tend, »ich habe es doch nicht so ge­meint. Nur im ers­ten Er­schre­cken ist es mir so raus­ge­fah­ren. Sei nicht mehr böse!«

      »Ich – böse – dir? We­gen so was? Nie!«

      »Aber du willst was tun, ich spü­re es! Otto, tu’s nicht, stür­ze dich we­gen so was nicht ins Un­glück! Ich könn­te es mir nie ver­zei­hen.«

      Er sieht sie einen Au­gen­blick an, fast lä­chelnd. Dann legt er bei­de Hän­de rasch auf ihre Schul­tern. Schon zieht er sie wie­der fort, als schä­me er sich die­ser ra­schen Zärt­lich­keit.

      »Was ich tun wer­de? Schla­fen wer­de ich! Und mor­gen sage ich dir, was wir tun wer­den!«

      Nun ist der Mor­gen ge­kom­men, und Quan­gel schläft noch. Aber jetzt kommt es auf eine hal­be Stun­de mehr oder we­ni­ger nicht an. Er ist bei ihr, er kann nichts Ge­fähr­li­ches tun, er schläft.

      Sie wen­det sich ab von sei­nem Bett, sie macht sich wie­der an ihre klei­nen Haus­ar­bei­ten. –

      Un­ter­des ist Frau Ro­sen­thal längst bei ih­rer Woh­nungs­tür an­ge­kom­men, so lang­sam sie auch trepp­auf ging. Sie ist nicht über­rascht, die Tür ver­schlos­sen zu fin­den – sie schließt sie auf. Und auch in der Woh­nung drin­nen sucht sie nicht erst lan­ge nach Sieg­fried oder ruft nach ihm. Auch das wüs­te Durchein­an­der be­ach­tet sie nicht, wie sie auch schon wie­der ver­ges­sen hat, dass sie ja ei­gent­lich dem Schritt ih­res Man­nes fol­gend die Woh­nung be­tre­ten hat.

      Ihre Be­nom­men­heit ist in ei­nem lang­sa­men, un­auf­halt­sa­men Wach­sen. Man kann nicht sa­gen, dass sie schläft, aber sie ist auch nicht wach. Wie sie die schwer ge­wor­de­nen Glie­der nur lang­sam und un­be­hol­fen be­we­gen kann, weil sie wie taub sind, so ist auch ihr Ge­hirn wie taub. Es kom­men Bil­der wie Flo­cken und zer­rin­nen auch schon wie­der, ehe sie sie noch recht deut­lich se­hen konn­te. Sie sitzt in der So­fae­cke, die Füße auf der ver­schmutz­ten Wä­sche, sie sieht sich lang­sam und trä­ge um. In der Hand hält sie noch im­mer die Schlüs­sel und das Sa­phi­r­arm­band, das ihr Sieg­fried zu Evas Ge­burt schenk­te. Der Ge­winn ei­ner gan­zen Wei­ßen Wo­che … Sie lä­chelt ein biss­chen.

      Dann hört sie, wie die Fl­ur­tür vor­sich­tig ge­öff­net wird, und sie weiß: das ist Sieg­fried. Jetzt kommt er. Des­we­gen bin ich doch hier rauf­ge­gan­gen. Ich will ihm ent­ge­gen­ge­hen.

      Aber sie bleibt sit­zen, ein Lä­cheln aus­ge­brei­tet auf dem gan­zen grau­en Ge­sicht. Sie wird ihn hier so sit­zend emp­fan­gen, als sei sie nie fort ge­we­sen, habe im­mer hier, zu sei­nem Empfang, ge­ses­sen.

      Dann geht end­lich die Tür, und statt des er­war­te­ten Sieg­fried ste­hen drei Män­ner in der Tür. Schon als sie un­ter den drei­en eine ver­hass­te brau­ne Uni­form sieht, weiß sie: das ist nicht Sieg­fried, Sieg­fried ist nicht da­bei. Ein biss­chen Angst will sich in ihr rüh­ren, aber wirk­lich nur ein ganz klein biss­chen. Nun ist es end­lich so­weit!

      Lang­sam schwin­det das Lä­cheln von ih­rem Ge­sicht, das vom Grau­en ins gelb­lich Grü­ne hin­über­wech­selt.

      Die drei ste­hen jetzt di­rekt vor ihr. Sie hört, wie ein großer, schwe­rer Mann in schwar­zem Pa­le­tot sagt: »Nicht be­sof­fen, mein Jun­ge. Wahr­schein­lich schlaf­mit­tel­ver­gif­tet. Wir wol­len schnell mal se­hen, dass wir aus ihr raus­quet­schen, was zu ho­len ist. Hö­ren Sie mal, Sie sind Frau Ro­sen­thal?«

      Sie nickt. »Ja­wohl, mei­ne Her­ren, Lore oder rich­ti­ger Sara Ro­sen­thal. Mein Mann sitzt in Moa­bit, zwei Söh­ne in den USA, eine Toch­ter in Dä­ne­mark, eine in Eng­land ver­hei­ra­tet …«

      »Und wie viel Geld ha­ben Sie de­nen ge­schickt?«, frag­te der Kri­mi­nal­kom­missar Rusch schnell.

      »Geld? Zu was denn Geld? Die ha­ben doch alle Geld ge­nug! Zu was soll ich de­nen noch Geld schi­cken?«

      Sie nickt