Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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wa­ren die Din­ge, die ihn täg­lich be­droh­ten, die er von sich ab­wen­den muss­te. Und er hat­te so we­nig Kraft …

      Ir­gend­wie ging die­ser Nach­mit­tag hin, ir­gend­wie war er kurz nach fünf auch im Stro­me der Heim­keh­ren­den. Er hat­te sich so nach Ruhe und Schlaf ge­sehnt; als er dann aber in sei­nem en­gen Ho­tel­zim­mer­chen stand, brach­te er es nicht über sich, ins Bett zu ge­hen. Er lief wie­der los, er kauf­te sich ein we­nig Es­sen ein.

      Und wie­der im Zim­mer, die Ess­wa­ren auf dem Tisch vor sich, das Bett ne­ben sich – aber er konn­te hier ein­fach nicht blei­ben. Er war wie ge­hetzt, es litt ihn nicht in die­sem Zim­mer. Er muss­te sich noch ein biss­chen Wasch­zeug kau­fen, auch se­hen, dass er bei ei­nem Tröd­ler eine blaue Blu­se kau­fen konn­te.

      Lief wie­der los, und als er in ei­ner Dro­ge­rie stand, fiel ihm ein, dass er noch einen gan­zen schwe­ren Hand­kof­fer mit all sei­nen Be­sitz­tü­mern bei der Lot­te zu ste­hen hat­te, de­ren auf Ur­laub kom­men­der Mann ihn so roh hin­aus­ge­wor­fen hat­te. Er rann­te aus der Dro­ge­rie, er stieg auf eine Elek­tri­sche; er ris­kier­te es: er fuhr ein­fach zu ihr. Er konn­te doch nicht alle sei­ne Sa­chen preis­ge­ben! Vor ei­ner Wucht Prü­gel grau­te es ihn, aber es trieb ihn, er muss­te zur Lot­te.

      Und er hat­te Glück, er fand die Lot­te zu Haus, der Mann war nicht da. »Dei­ne Sa­chen, Enno?«, frag­te sie. »Ich habe sie gleich in den Kel­ler ge­setzt, da­mit er sie nicht fin­det. War­te, ich hole den Schlüs­sel!«

      Aber er hielt sie um­fasst, er lehn­te den Kopf ge­gen ihre star­ke Brust. Die An­stren­gun­gen der letz­ten Wo­chen wa­ren zu viel für ihn ge­we­sen, er wein­te ein­fach los.

      »Ach, Lot­te, Lot­te, ich halt es ein­fach ohne dich nicht aus! Ich hab sol­che Sehn­sucht nach dir!«

      Sein gan­zer Kör­per beb­te vor Schluch­zen. Sie war or­dent­lich er­schro­cken. Sie war den Um­gang mit Män­nern ge­wohnt, auch den mit flen­nen­den, aber dann wa­ren sie be­trun­ken, und die­ser hier war nüch­tern … Und dann die­ses Ge­re­de von Sehn­sucht nach ihr und nicht ohne sie aus­kom­men, das war Ewig­kei­ten her, dass je­mand so was zu ihr ge­sagt hat­te! Wenn es über­haupt je je­mand zu ihr ge­sagt hat­te!

      Sie be­ru­hig­te ihn, so gut sie konn­te. »Er bleibt ja nur drei Wo­chen auf Ur­laub, dann kanns­te wie­der bei mir, Enno! Nimm dich jetzt zu­sam­men, hol dei­ne Sa­chen, eh er kommt. Du weißt doch!«

      Oh, wie er wuss­te, wie ge­nau er wuss­te, was al­les ihn be­droh­te!

      Sie setz­te ihn noch in sei­ne Elek­tri­sche, half ihm mit dem Hand­kof­fer.

      Enno Klu­ge fuhr in sein Ho­tel, doch ein we­nig er­leich­tert. Nur noch drei Wo­chen, von de­nen vier Tage schon rum wa­ren. Dann ging er wie­der an die Front, und er konn­te sich in sein Bett le­gen! Enno hat­te ge­dacht, er hiel­te es ganz ohne Wei­ber aus, aber das ging nicht, er konn­te es ein­fach nicht. Er wür­de bis da­hin auch noch ein­mal nach der Tut­ti se­hen; er sah doch jetzt, wenn man ih­nen nur was vor­wein­te, dann wa­ren sie gar nicht so schlimm. Dann hal­fen sie ei­nem gleich! Er konn­te viel­leicht die drei Wo­chen bei der Tut­ti blei­ben, das ein­sa­me Ho­tel­zim­mer war zu schlimm!

      Aber trotz der Wei­ber wür­de er ar­bei­ten, ar­bei­ten, ar­bei­ten! Er wür­de kei­ne Zi­cken ma­chen, er nicht, nie wie­der! Er war ge­heilt!

      16. Das Ende der Frau Rosenthal

      Am Sonn­tag­mor­gen wach­te Frau Ro­sen­thal mit ei­nem Schre­ckens­schrei aus tie­fem Schlaf auf. Sie hat­te wie­der et­was Grau­si­ges von dem ge­träumt, was sie jetzt fast in je­der Nacht heim­such­te: sie war mit Sieg­fried auf der Flucht. Sie ver­steck­ten sich, die Ver­fol­ger gin­gen an ih­nen vor­über, wo­bei sie die so schlecht Ver­steck­ten aus den Au­gen­win­keln zu ver­höh­nen schie­nen.

      Plötz­lich fing Sieg­fried an zu lau­fen, sie hin­ter ihm drein. Sie konn­te nicht so schnell lau­fen wie er. Sie rief: »Nicht so schnell, Sieg­fried! Ich kom­me nicht mit! Lass mich nicht al­lein!«

      Er hob sich von der Erde, er flog. Flog erst we­nig über dem Pflas­ter, dann hob er sich im­mer hö­her, nun ent­schwand er über den Dä­chern. Sie stand al­lein auf der Greifs­wal­der Stra­ße. Ihre Trä­nen lie­fen. Eine große, rie­chen­de Hand leg­te sich er­drückend vor ihr Ge­sicht, eine Stim­me flüs­ter­te an ih­rem Ohr: »Olle Ju­densau, hab ich dich end­lich?«

      Sie starr­te nach der Ver­dun­ke­lung vor den Fens­tern, an den Spal­ten si­cker­te Ta­ges­licht hin­ein. Die Schre­cken der Nacht ent­wi­chen vor de­nen des Ta­ges, der ihr be­vor­stand. Es war schon wie­der Tag! Wie­der hat­te sie den Kam­mer­ge­richts­rat ver­schla­fen, den ein­zi­gen Men­schen, mit dem sie spre­chen konn­te! Sie hat­te sich fest vor­ge­nom­men, wach zu blei­ben, und nun war sie doch wie­der ein­ge­schla­fen! Wie­der einen Tag al­lein, zwölf Stun­den, fünf­zehn Stun­den! Oh, sie hielt das nicht mehr aus! Die Wän­de die­ses Zim­mers stürz­ten über ihr zu­sam­men, im­mer das glei­che blei­che Ge­sicht im Spie­gel, stets wie­der das­sel­be Geld zäh­len – nein, so ging es nicht wei­ter! Das Schlimms­te war nicht so schlimm wie die­ses ta­ten­lo­se Ein­ge­sperrt­sein.

      Has­tig klei­det sich Frau Ro­sen­thal an. Dann geht sie an die Tür, sie dreht den Rie­gel, öff­net lei­se und späht auf den Flur hin­aus. Al­les ist still in der Woh­nung, auch im Hau­se ist noch al­les still. Die Kin­der lär­men noch nicht auf der Stra­ße – es muss noch sehr früh sein. Vi­el­leicht ist der Rat noch in sei­nem Bü­cher­zim­mer? Vi­el­leicht kann sie ihm noch gu­ten Mor­gen sa­gen, zwei, drei Sät­ze mit ihm wech­seln, die ihr Mut ma­chen wer­den, einen end­lo­sen Tag zu er­tra­gen?

      Sie wagt es, ge­gen sein Ver­bot wagt sie es. Sie geht rasch über den Flur und tritt in sein Zim­mer ein. Sie schreckt et­was vor der Hel­le zu­rück, die durch die ge­öff­ne­ten Fens­ter her­ein­strömt, vor der Stra­ße, der Öf­fent­lich­keit, die mit die­ser Luft zu­sam­men hier jetzt herr­schen. Aber mehr noch erschrickt sie vor ei­ner Frau, die mit ei­nem Tep­pichrol­ler den Zwickau­er Tep­pich rei­nigt. Sie ist eine dür­re, äl­te­re Frau; das Tuch um den Kopf, der Tep­pichrol­ler be­stä­ti­gen, dass sie hier die Rein­ma­che­frau ist.

      Beim Ein­tritt von Frau Ro­sen­thal hat die­se Frau die Ar­beit un­ter­bro­chen. Sie starrt erst einen Au­gen­blick die un­er­war­te­te Be­su­che­rin an, wo­bei sie die Au­gen­li­der rasch hin­ter­ein­an­der ein paar Mal zu­kneift, als kön­ne sie den An­blick da nicht für ganz wirk­lich neh­men. Dann lehnt sie den Tep­pichrol­ler ge­gen den Tisch und fängt an, mit Hän­den und Ar­men ab­weh­ren­de Be­we­gun­gen zu ma­chen, wo­bei sie von Zeit zu Zeit ein schar­fes »Sch! Sch!« aus­stößt, als scheu­che sie Hüh­ner.

      Frau Ro­sen­thal, schon im Rück­zug, sagt fle­hend:

      »Wo ist der Kam­mer­ge­richts­rat? Ich muss ihn einen Au­gen­blick spre­chen!«

      Die Frau kneift die Lip­pen eng zu­sam­men und schüt­telt hef­tig den Kopf. Dann be­ginnt sie wie­der mit ih­ren Scheuch­be­we­gun­gen und dem »Sch! Sch!«, bis Frau Ro­sen­thal ganz in ihr Zim­mer zu­rück­ge­wi­chen ist. Dort sinkt sie, wäh­rend die Rein­ma­che­frau lei­se die Tür schließt, an ih­rem Tisch in den Ses­sel und bricht fas­sungs­los in Trä­nen aus. Al­les um­sonst! Wie­der ein Tag, der sie nur zum ein­sa­men, sinn­lo­sen War­ten ver­ur­teilt! Viel ge­schieht in der Welt, viel­leicht stirbt jetzt ge­ra­de Sieg­fried, oder eine deut­sche Flie­ger­bom­be tö­tet ihr die Eva – sie aber muss hier im­mer wei­ter im Dun­keln sit­zen und nichts tun.

      Sie