waren die Dinge, die ihn täglich bedrohten, die er von sich abwenden musste. Und er hatte so wenig Kraft …
Irgendwie ging dieser Nachmittag hin, irgendwie war er kurz nach fünf auch im Strome der Heimkehrenden. Er hatte sich so nach Ruhe und Schlaf gesehnt; als er dann aber in seinem engen Hotelzimmerchen stand, brachte er es nicht über sich, ins Bett zu gehen. Er lief wieder los, er kaufte sich ein wenig Essen ein.
Und wieder im Zimmer, die Esswaren auf dem Tisch vor sich, das Bett neben sich – aber er konnte hier einfach nicht bleiben. Er war wie gehetzt, es litt ihn nicht in diesem Zimmer. Er musste sich noch ein bisschen Waschzeug kaufen, auch sehen, dass er bei einem Trödler eine blaue Bluse kaufen konnte.
Lief wieder los, und als er in einer Drogerie stand, fiel ihm ein, dass er noch einen ganzen schweren Handkoffer mit all seinen Besitztümern bei der Lotte zu stehen hatte, deren auf Urlaub kommender Mann ihn so roh hinausgeworfen hatte. Er rannte aus der Drogerie, er stieg auf eine Elektrische; er riskierte es: er fuhr einfach zu ihr. Er konnte doch nicht alle seine Sachen preisgeben! Vor einer Wucht Prügel graute es ihn, aber es trieb ihn, er musste zur Lotte.
Und er hatte Glück, er fand die Lotte zu Haus, der Mann war nicht da. »Deine Sachen, Enno?«, fragte sie. »Ich habe sie gleich in den Keller gesetzt, damit er sie nicht findet. Warte, ich hole den Schlüssel!«
Aber er hielt sie umfasst, er lehnte den Kopf gegen ihre starke Brust. Die Anstrengungen der letzten Wochen waren zu viel für ihn gewesen, er weinte einfach los.
»Ach, Lotte, Lotte, ich halt es einfach ohne dich nicht aus! Ich hab solche Sehnsucht nach dir!«
Sein ganzer Körper bebte vor Schluchzen. Sie war ordentlich erschrocken. Sie war den Umgang mit Männern gewohnt, auch den mit flennenden, aber dann waren sie betrunken, und dieser hier war nüchtern … Und dann dieses Gerede von Sehnsucht nach ihr und nicht ohne sie auskommen, das war Ewigkeiten her, dass jemand so was zu ihr gesagt hatte! Wenn es überhaupt je jemand zu ihr gesagt hatte!
Sie beruhigte ihn, so gut sie konnte. »Er bleibt ja nur drei Wochen auf Urlaub, dann kannste wieder bei mir, Enno! Nimm dich jetzt zusammen, hol deine Sachen, eh er kommt. Du weißt doch!«
Oh, wie er wusste, wie genau er wusste, was alles ihn bedrohte!
Sie setzte ihn noch in seine Elektrische, half ihm mit dem Handkoffer.
Enno Kluge fuhr in sein Hotel, doch ein wenig erleichtert. Nur noch drei Wochen, von denen vier Tage schon rum waren. Dann ging er wieder an die Front, und er konnte sich in sein Bett legen! Enno hatte gedacht, er hielte es ganz ohne Weiber aus, aber das ging nicht, er konnte es einfach nicht. Er würde bis dahin auch noch einmal nach der Tutti sehen; er sah doch jetzt, wenn man ihnen nur was vorweinte, dann waren sie gar nicht so schlimm. Dann halfen sie einem gleich! Er konnte vielleicht die drei Wochen bei der Tutti bleiben, das einsame Hotelzimmer war zu schlimm!
Aber trotz der Weiber würde er arbeiten, arbeiten, arbeiten! Er würde keine Zicken machen, er nicht, nie wieder! Er war geheilt!
16. Das Ende der Frau Rosenthal
Am Sonntagmorgen wachte Frau Rosenthal mit einem Schreckensschrei aus tiefem Schlaf auf. Sie hatte wieder etwas Grausiges von dem geträumt, was sie jetzt fast in jeder Nacht heimsuchte: sie war mit Siegfried auf der Flucht. Sie versteckten sich, die Verfolger gingen an ihnen vorüber, wobei sie die so schlecht Versteckten aus den Augenwinkeln zu verhöhnen schienen.
Plötzlich fing Siegfried an zu laufen, sie hinter ihm drein. Sie konnte nicht so schnell laufen wie er. Sie rief: »Nicht so schnell, Siegfried! Ich komme nicht mit! Lass mich nicht allein!«
Er hob sich von der Erde, er flog. Flog erst wenig über dem Pflaster, dann hob er sich immer höher, nun entschwand er über den Dächern. Sie stand allein auf der Greifswalder Straße. Ihre Tränen liefen. Eine große, riechende Hand legte sich erdrückend vor ihr Gesicht, eine Stimme flüsterte an ihrem Ohr: »Olle Judensau, hab ich dich endlich?«
Sie starrte nach der Verdunkelung vor den Fenstern, an den Spalten sickerte Tageslicht hinein. Die Schrecken der Nacht entwichen vor denen des Tages, der ihr bevorstand. Es war schon wieder Tag! Wieder hatte sie den Kammergerichtsrat verschlafen, den einzigen Menschen, mit dem sie sprechen konnte! Sie hatte sich fest vorgenommen, wach zu bleiben, und nun war sie doch wieder eingeschlafen! Wieder einen Tag allein, zwölf Stunden, fünfzehn Stunden! Oh, sie hielt das nicht mehr aus! Die Wände dieses Zimmers stürzten über ihr zusammen, immer das gleiche bleiche Gesicht im Spiegel, stets wieder dasselbe Geld zählen – nein, so ging es nicht weiter! Das Schlimmste war nicht so schlimm wie dieses tatenlose Eingesperrtsein.
Hastig kleidet sich Frau Rosenthal an. Dann geht sie an die Tür, sie dreht den Riegel, öffnet leise und späht auf den Flur hinaus. Alles ist still in der Wohnung, auch im Hause ist noch alles still. Die Kinder lärmen noch nicht auf der Straße – es muss noch sehr früh sein. Vielleicht ist der Rat noch in seinem Bücherzimmer? Vielleicht kann sie ihm noch guten Morgen sagen, zwei, drei Sätze mit ihm wechseln, die ihr Mut machen werden, einen endlosen Tag zu ertragen?
Sie wagt es, gegen sein Verbot wagt sie es. Sie geht rasch über den Flur und tritt in sein Zimmer ein. Sie schreckt etwas vor der Helle zurück, die durch die geöffneten Fenster hereinströmt, vor der Straße, der Öffentlichkeit, die mit dieser Luft zusammen hier jetzt herrschen. Aber mehr noch erschrickt sie vor einer Frau, die mit einem Teppichroller den Zwickauer Teppich reinigt. Sie ist eine dürre, ältere Frau; das Tuch um den Kopf, der Teppichroller bestätigen, dass sie hier die Reinmachefrau ist.
Beim Eintritt von Frau Rosenthal hat diese Frau die Arbeit unterbrochen. Sie starrt erst einen Augenblick die unerwartete Besucherin an, wobei sie die Augenlider rasch hintereinander ein paar Mal zukneift, als könne sie den Anblick da nicht für ganz wirklich nehmen. Dann lehnt sie den Teppichroller gegen den Tisch und fängt an, mit Händen und Armen abwehrende Bewegungen zu machen, wobei sie von Zeit zu Zeit ein scharfes »Sch! Sch!« ausstößt, als scheuche sie Hühner.
Frau Rosenthal, schon im Rückzug, sagt flehend:
»Wo ist der Kammergerichtsrat? Ich muss ihn einen Augenblick sprechen!«
Die Frau kneift die Lippen eng zusammen und schüttelt heftig den Kopf. Dann beginnt sie wieder mit ihren Scheuchbewegungen und dem »Sch! Sch!«, bis Frau Rosenthal ganz in ihr Zimmer zurückgewichen ist. Dort sinkt sie, während die Reinmachefrau leise die Tür schließt, an ihrem Tisch in den Sessel und bricht fassungslos in Tränen aus. Alles umsonst! Wieder ein Tag, der sie nur zum einsamen, sinnlosen Warten verurteilt! Viel geschieht in der Welt, vielleicht stirbt jetzt gerade Siegfried, oder eine deutsche Fliegerbombe tötet ihr die Eva – sie aber muss hier immer weiter im Dunkeln sitzen und nichts tun.
Sie