Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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Neu­gie­ri­ge ste­hen noch vor ei­nem Café, in das man den An­ge­schla­ge­nen wohl ge­schafft hat.

      Er ist schon wie­der bei Be­sin­nung. Zum zwei­ten Mal in­ner­halb zwei­er Stun­den hat Karl Her­ge­sell sich ei­ner amt­li­chen Per­son ge­gen­über aus­zu­wei­sen.

      »Es war wirk­lich nichts, Herr Wacht­meis­ter«, ver­si­cher­te er. »Ich habe ihn wohl un­acht­sam auf den Fuß ge­tre­ten, und er schlug gleich zu. Kei­ne Ah­nung, wer das war, ich hat­te mei­ne Ent­schul­di­gung noch nicht raus, da schlug er schon zu.«

      Wie­der darf Karl Her­ge­sell un­an­ge­foch­ten ge­hen, kein Ver­dacht be­steht ge­gen ihn. Aber er ist sich klar dar­über, dass er sein Glück so nicht wei­ter auf die Pro­be stel­len darf. Er ist zu die­sem Ex-Schwie­ger­va­ter Otto Quan­gel auch nur des­we­gen ge­gan­gen, um we­gen Tru­dels Si­cher­heit klar­zu­se­hen. Nun, was die­sen Otto Quan­gel an­geht, so darf er wohl un­be­sorgt sein. Ein har­ter Vo­gel das, und ein bö­ser dazu. Und ge­wiss kein ge­schwät­zi­ger, trotz sei­nes großen Schna­bel­ha­kens. Die­se Art, wie er rasch und böse zu­schlug!

      Und weil ein sol­cher Mensch viel­leicht plap­pern konn­te, war die Tru­del bei­na­he in den Tod ge­hetzt wor­den. Der plap­per­te nie – auch vor de­nen nicht! Und um Tru­del wür­de der sich auch kaum küm­mern, er schi­en von der Tru­del nicht mehr viel wis­sen zu wol­len. Was solch ein ra­scher Kinn­ha­ken ei­nem doch manch­mal für Auf­klä­rung brin­gen kann!

      Karl Her­ge­sell geht nun völ­lig un­be­sorgt in die Fa­brik, und als er dort durch vor­sich­ti­ge Um­fra­ge er­fährt, dass Gri­go­leit und der Säug­ling in den Sack ge­hau­en ha­ben, at­met er auf. Nun ist al­les si­cher. Es gibt kei­ne Zel­le mehr, aber er be­dau­ert das nicht ein­mal sehr. Da­für wird Tru­del le­ben!

      Im Grun­de hat er sich nie so sehr für die­se po­li­ti­sche Ar­beit in­ter­es­siert, da­für umso mehr für die Tru­del!

      Quan­gel fährt auf der Elek­tri­schen wie­der sei­ner Woh­nung zu, aber als er aus­stei­gen müss­te, fährt er an der Ja­blons­ki­stra­ße vor­bei. Si­cher ist si­cher, falls wirk­lich noch ein Ver­fol­ger an sei­nen Ha­cken hängt, will er sich mit ihm al­lein aus­ein­an­der­set­zen, ihn nicht in die Woh­nung zie­hen. Anna ist jetzt nicht in der rich­ti­gen Ver­fas­sung, mit ei­ner un­an­ge­neh­men Über­ra­schung fer­tig­zu­wer­den. Er muss erst mit ihr re­den. Ge­wiss, er wird das tun, Anna spielt eine große Rol­le bei dem, was er vor­hat. Aber erst muss er an­de­res er­le­di­gen.

      Quan­gel hat sich ent­schlos­sen, heu­te vor der Ar­beit über­haupt nicht mehr nach Haus zu kom­men. Er wird eben auf Kaf­fee und Mit­ta­ges­sen ver­zich­ten. Anna wird ein biss­chen un­ru­hig sein, aber sie wird schon war­ten und nichts Vo­rei­li­ges tun. Er muss heu­te was er­le­di­gen. Mor­gen ist Sonn­tag, da muss al­les da sein.

      Er steigt wie­der um und fährt in die Stadt hin­ein. Nein, we­gen die­ses jun­gen Men­schen eben, dem er so rasch mit ei­nem Faust­schlag den Mund ge­stopft hat, macht sich Quan­gel kei­ne großen Sor­gen. Er glaubt auch nicht so recht an wei­te­re Ver­fol­ger, er glaubt viel­mehr dar­an, dass die­ser Mann wirk­lich von der Tru­del kam. Sie hat ja schon so was an­ge­deu­tet, sie müs­se ge­ste­hen, dass sie ih­ren Schwur ge­bro­chen habe. Da­rauf­hin ha­ben die ihr na­tür­lich al­len Um­gang mit ihm ver­bo­ten, und sie hat die­sen jun­gen Bur­schen als Bo­ten ab­ge­sandt. All das ganz un­ge­fähr­lich. Die rei­ne Kin­de­rei das, wirk­lich Kin­der, die sich in ein Spiel ein­ge­las­sen ha­ben, von dem sie nicht das Ge­rings­te ver­ste­hen. Er, Otto Quan­gel, ver­steht ein we­nig mehr da­von. Er weiß, in was er sich da ein­las­sen wird. Aber er wird die­ses Spiel nicht wie ein Kind spie­len, er wird sich jede Kar­te über­le­gen.

      Er sieht die Tru­del wie­der vor sich, wie sie da in die­sem zu­gi­gen Gang ge­gen das Pla­kat des Volks­ge­richts­ho­fes lehn­te – ah­nungs­los. Er emp­fin­det wie­der die­ses un­ru­hi­ge Ge­fühl, als der Kopf des Mäd­chens von der Über­schrift »Im Na­men des deut­schen Vol­kes« ge­krönt war, er liest wie­der statt der frem­den die ei­ge­nen Na­men – nein, nein, dies ist eine Sa­che für ihn al­lein. Und für Anna, für die Anna na­tür­lich auch. Er wird ihr schon zei­gen, wer »sein« Füh­rer ist!

      In der In­nen­stadt an­ge­kom­men, er­le­digt Quan­gel erst ei­ni­ge Ein­käu­fe. Er kauft nur für Pfen­nig­be­trä­ge, ein paar Post­kar­ten, einen Fe­der­hal­ter, ein paar Stahl­fe­dern, ein Fläsch­chen Tin­te. Und auch die­se Ein­käu­fe ver­teilt er noch auf ein Wa­ren­haus, eine Wool­worth-Nie­der­la­ge und auf ein Schreib­wa­ren­ge­schäft. Schließ­lich, nach lan­gem Über­le­gen, er­steht er noch ein Paar ganz ein­fa­che, dün­ne Stoff­hand­schu­he, die er ohne Be­zug­schein be­kommt.

      Dann sitzt er in ei­nem die­ser großen Bier­re­stau­rants am Alex­an­der­platz, er trinkt ein Glas Bier, er be­kommt auch noch mar­ken­frei zu es­sen. Wir schrei­ben 1940, die Ausplün­de­rung der über­fal­le­nen Völ­ker hat be­gon­nen, das deut­sche Volk hat kei­ne großen Ent­beh­run­gen zu tra­gen. Ei­gent­lich ist noch fast al­les zu ha­ben, und noch nicht ein­mal über­mä­ßig teu­er.

      Und was den Krieg selbst an­geht, so wird er in frem­den Län­dern fern von Ber­lin aus­ge­tra­gen. Ja, es er­schei­nen schon dann und wann eng­li­sche Flug­zeu­ge über der Stadt. Dann fal­len ein paar Bom­ben, und die Be­völ­ke­rung macht am nächs­ten Tage lan­ge Wan­de­run­gen, um die Zer­stö­run­gen zu be­sich­ti­gen. Die meis­ten la­chen dann und sa­gen: »Wenn die uns so er­le­di­gen wol­len, brau­chen sie hun­dert Jah­re dazu, und dann ist noch im­mer nicht viel da­von zu mer­ken. Un­ter­des ra­die­ren wir ihre Städ­te vom Erd­bo­den aus!«

      So re­den die Leu­te, und seit jetzt Frank­reich um Waf­fen­still­stand bat, hat sich die Zahl de­rer, die so re­den, stark ver­grö­ßert. Die meis­ten Men­schen lau­fen dem Er­folg nach. Ein Mann wie Otto Quan­gel, der mit­ten im Er­folg aus der Rei­he tritt, ist eine Aus­nah­me.

      Er sitzt da. Er hat noch Zeit, noch muss er nicht in die Fa­brik. Aber jetzt ist die Un­ru­he der letz­ten Tage von ihm ab­ge­fal­len. Seit er die­ses Haus be­sich­tigt, seit er die­se paar klei­nen Ein­käu­fe er­le­digt hat, ist al­les ent­schie­den. Er braucht nicht ein­mal mehr groß nach­zu­den­ken über das, was er noch zu tun hat. Das tut sich jetzt von al­lein, der Weg liegt klar vor ihm. Er braucht ihn nur wei­ter­zu­ge­hen, die ers­ten ent­schei­den­den Schrit­te in ihn hin­ein sind schon ge­tan.

      Dann, als sei­ne Zeit ge­kom­men ist, zahlt er und macht sich auf den Weg in die Fa­brik. Ob­wohl es ein wei­ter Weg ist vom Alex­an­der­platz aus, geht er ihn zu Fuß. Er hat heu­te schon ge­nug Geld aus­ge­ge­ben, für Fah­re­rei, für die Ein­käu­fe, das Es­sen. Ge­nug? Viel zu viel! Trotz­dem Quan­gel sich jetzt für ein ganz an­de­res Le­ben ent­schlos­sen hat, wird er an den bis­he­ri­gen Ge­wohn­hei­ten nichts än­dern. Er wird wei­ter spar­sam blei­ben und sich die Men­schen vom Lei­be hal­ten.

      Schließ­lich steht er wie­der in sei­ner Werk­statt, auf­merk­sam und wach, wort­los und ab­wei­send, ganz wie im­mer. Ihm ist nichts an­zu­se­hen von dem, was in ihm vor­ge­gan­gen ist. So ein Zi­ga­ret­ten­rau­cher wie der falsche Tisch­ler Doll­fuß wird ihm nie was an­mer­ken. Für den steht sein Bild fest: ein al­ter Trot­tel, von ei­nem schmut­zi­gen Geiz be­ses­sen, nur für sei­ne Ar­beit in­ter­es­siert. Das ist das Bild, und so soll es auch blei­ben.

      1 dün­ner, schlech­ter Kaf­fee oder auch Kaf­fee-Er­satz <<<