Quangel fest. »Weil ich so einer Dame mal die Wahrheit gesagt habe!«
»Aber nein, um Gottes willen, fassen Sie das bloß nicht so auf! Vorläufig sind Sie erst einmal zur Schonung beurlaubt. Wir holen Sie uns wieder …«
Den Weg bis zum Friedrichshain legten die beiden Damen schweigend zurück. Sie sind ganz mit ihren Gedanken beschäftigt. Vermutlich hätten sie eben zu der Quangel viel schärfer sein müssen, sie auch anbrüllen und niederdonnern müssen. Aber das ist ihnen leider nicht gegeben – sie gehören zu jenen, die immer kuschen, sie sind wehrlos. Und weil sie das wissen, werden sie zum Fußabtreter für jeden, der schreien kann. Wenn es nur jetzt gutgeht mit diesem Besuch bei der hohen Dame, wenn sie nur (ohne die Hauptschuldige mitzubringen) ein einigermaßen günstiges Ergebnis nach Haus holen.
Aber sie haben Glück. Es ist jetzt doch – über all dem Telefonieren, Schreien, Besuchen – ziemlich spät am Abend geworden. Die gnädige Frau ist gerade beim Ankleiden, die gnädige Frau will in die Staatsoper. Aber sie dürfen auf zwei Hockern in der Diele warten.
Nach einer Viertelstunde werden sie dann von dem Mädchen gefragt, um was es sich denn eigentlich handele? Sie berichten es der Angestellten mit bedauerndem Flüstern und bekommen den Bescheid, weiter zu warten.
Aber in Wirklichkeit interessiert die ganze Sache Frau Obersturmbannführer Gerich kaum noch. Sie hat drei Stunden mit ihren Freundinnen telefoniert, sie hat gebadet, die Staatsoper erwartet sie, nachher ein gemütlicher Abend in der Femina – was soll da so ein Weib aus dem Volk die Dame der Gesellschaft noch groß interessieren? So sagt die Claire nach einer weiteren Viertelstunde zu ihrem Ernst: »Ach, geh und brüll die Weiber ein bisschen zusammen und schick sie weg! Ich will mir mit so was nicht den Abend verderben.«
So geht der Obersturmbannführer ein bisschen auf die Diele und brüllt die Besucherinnen zusammen. Er begreift dabei gar nicht, dass keine der beiden die eigentlich Schuldige ist. Das ist ihm ganz egal, er schreit sie an, und dann schmeißt er sie raus. Der Fall ist erledigt, endgültig!
Die beiden gehen nach Haus. Die Mollige sagt: »Eigentlich kann ich so ’ne Frau wie die Quangel manchmal direkt verstehen.«
Die Weißhaarige denkt an ihren Sohn und presst die Lippen fest zusammen.
Die Mollige fährt fort: »Manchmal wünsche ich es mir direkt, nichts weiter zu sein als eine einfache Arbeiterin, in der Masse zu verschwinden. Man wird so erledigt von diesem ewigen Vorsichtigsein, dieser nie ablassenden Angst …«
Das Mutterkreuz schüttelt den Kopf. »Ich würde lieber nicht so reden«, sagt sie kurz. Und sie setzt hinzu, als die andere gekränkt schweigt: »Jedenfalls haben wir die Sache auch ohne die Quangel, so gut wie es ging, hingekriegt. Er hat ausdrücklich gesagt, der Fall ist für ihn erledigt, und das melden wir nach oben weiter.«
»Und dass die Quangel abgesetzt ist!«
»Natürlich, das auch! Die will ich nie wieder auf unserer Geschäftsstelle sehen!«
Und sie bekamen sie dort auch nicht wieder zu sehen. Anna Quangel aber konnte ihrem Mann einen Erfolg melden, und so sorgfältig er sie auch ausfragte, es schien ein wirklicher Erfolg zu sein. Quangels waren beide ihre Ämter los, ohne Risiko …
1 Paul Joseph Goebbels war einer der einflussreichsten Politiker während der Zeit des Nationalsozialismus und einer der engsten Vertrauten Adolf Hitlers. <<<
18. Die erste Karte wird geschrieben
Der Rest der Woche verlief ohne alle besonderen Ereignisse, und so kam der Sonntag wieder heran, dieser Sonntag, von dem sich Anna Quangel endlich die so sehnlich erwartete und so lange aufgeschobene Aussprache mit Otto über seine Pläne erwartete. Er war erst spät aufgestanden, aber er war guter Stimmung und nicht ruhelos. Manchmal sah sie ihn beim Kaffeetrinken rasch von der Seite an, ein wenig aufmunternd, aber er schien das nicht zu merken, er aß, langsam kauend, sein Brot und rührte dabei in seinem Kaffee.
Nur schwer konnte sich Anna entschließen, das Geschirr fortzuräumen. Aber diesmal war es wirklich nicht an ihr, das erste Wort zu sprechen. Er hatte ihr für den Sonntag diese Aussprache zugesagt, und er würde schon sein Wort halten, jede Aufforderung von ihr hätte wie ein Drängen ausgesehen.
So stand sie mit einem ganz leisen Seufzer auf und trug die Tassen und die Teller in die Küche. Als sie zurückkam, um den Brotkorb und die Kanne zu holen, kniete er vor einem Schubfach der Kommode und kramte darin herum. Anna Quangel konnte sich nicht erinnern, was eigentlich in diesem Schubfach lag. Es konnte nur alter, längst vergessener Schraps sein. »Suchst du was Bestimmtes, Otto?«, fragte sie mit einem alten Berliner Witz.
Aber er gab nur einen Knurrlaut von sich, so zog sie sich tief in die Küche zurück, um abzuwaschen und das Essen vorzubereiten. Er wollte nicht. Er wollte also wieder nicht! Und mehr denn je war sie der Überzeugung, dass sich etwas in ihm vorbereitete, von dem sie immer noch nichts wusste und das sie doch wissen musste!
Später, als sie wieder in die Stube hereinkam, um sich beim Kartoffelschälen in seine Nähe zu setzen, fand sie ihn an dem seiner Decke beraubten Tisch, die Platte lag voller Schnitzmesser, und kleine Späne bedeckten bereits den Boden um ihn. »Was tust du denn, Otto?«, fragte sie maßlos erstaunt.
»Mal sehen, ob ich noch schnitzen kann«, gab er zurück.
Sie war maßlos enttäuscht und auch ein wenig gereizt. Wenn Otto auch kein großer Kenner der Menschenseele war, eine kleine Ahnung musste er doch davon haben, wie es in ihr aussah, mit welcher Spannung sie jede Mitteilung von ihm erwartete. Und nun hatte er seine Schnitzmesser aus ihren ersten Ehejahren hervorgesucht und schnippelte am Holz herum ganz wie damals, als er sie durch sein ewiges Schweigen zur Verzweiflung brachte. Damals war sie seine Wortkargheit noch nicht so gewohnt gewesen wie heute, aber heute, grade heute, da sie sie gewohnt war, schien sie ihr völlig unerträglich. Schnitzen, du lieber Gott, wenn das alles war, was diesem Mann nach solchen Erlebnissen einfiel! Wenn er sich mit stundenlanger schweigender Schnitzkunst seine so eifersüchtig gehütete Stille wiederholen wollte – nein, das würde eine schwere Enttäuschung für sie bedeuten. Er hatte sie schon oft schwer enttäuscht, aber diesmal würde sie das nicht so stillschweigend ansehen können.
Während sie dieses alles sehr unruhig und verzweifelt überdachte, sah sie doch mit halber Neugier auf das längliche, dicke Holzstück, das er nachdenklich zwischen seinen großen Händen drehte, von dem er nachdenklich mit seinem Messer dann und wann einen stärkeren Span abnahm. Nein, eine