Der Sturz des Kommissars Escherich
In dem Jahr, das auf den »Selbstmord« des kleinen Enno Kluge gefolgt war, hatte der Kommissar Escherich ein verhältnismäßig ruhiges Leben führen können, nicht gar zu belästigt durch die Ungeduld seiner Vorgesetzten. Damals, als dieser Selbstmord gemeldet worden war, als ersichtlich wurde, dass der schmächtige Mann sich allen Verhören durch Gestapo und SS entzogen hatte, gab es natürlich bei Obergruppenführer Prall Gewitter über Gewitter. Aber das legte sich mit der Zeit, die Spur war endgültig kalt geworden, nun musste auf eine neue Spur gewartet werden.
Im Übrigen war dieser Klabautermann nicht mehr so wichtig. Die sture Monotonie, mit der er Karten immer gleichen Inhalts schrieb, die niemand las, niemand lesen wollte und die alle Leute in Verlegenheit oder Angst stürzten, ließ ihn nur lächerlich und dumm erscheinen. Wohl piekte Escherich noch brav seine Fähnchen in den Stadtplan von Berlin. Mit einiger Befriedigung sah er, dass sie nördlich vom Alexanderplatz immer dichter wurden – da musste der Vogel sein Nest haben! Und dann diese auffällige Ansammlung von fast zehn Fähnchen südlich vom Nollendorfplatz – auch dort musste der Klabautermann regelmäßig, wenn auch in großen Zeitabständen hinkommen. Das alles würde sich eines Tages schon noch befriedigend aufklären …
Du kommst uns schon! Du kommst uns immer näher, unvermeidlich!, kicherte der Kommissar und rieb sich die Hände.
Aber dann ging er wieder zu seinen anderen Arbeiten über. Es gab wichtigere und dringendere Fälle. Eine Art Wahnsinniger, ein überzeugter Nazi, wie er sich titulierte, war gerade sehr aktuell, er tat nichts, als alle Tage dem Minister Goebbels einen grob beleidigenden, oft pornografischen Brief zu schreiben. Zuerst hatten diese Briefe den Minister amüsiert, später irritiert, dann hatte er getobt und sein Opfer verlangt. Seine Eitelkeit war tödlich verletzt.
Nun, Kommissar Escherich hatte Glück gehabt, er hatte den Fall »Schweinigel«, wie er ihn getauft hatte, binnen heute und einem Vierteljahr erledigen können. Der Briefschreiber, der übrigens wirklich in der Partei war und sogar altes Parteimitglied, war zu Herrn Minister Goebbels gebracht worden, und damit konnte Escherich den Fall ad acta legen. Er wusste, er würde nie wieder etwas von »Schweinigeln« hören. Der Minister vergaß nie eine ihm angetane Kränkung.
Dann kamen andere Fälle – vor allem der jenes Mannes, der an prominente Leute Enzykliken des Papstes und Radioansprachen von Thomas Mann versandte, echte und gefälschte. Ein geschickter Bursche, dieser Mann – es war nicht ganz einfach gewesen, ihn zu kriegen. Aber schließlich hatte Escherich ihn doch für die Hinrichtungszelle in der Plötze reif machen können.
Und dieser kleine Prokurist, der plötzlich größenwahnsinnig geworden war, der sich zum Generaldirektor eines nicht existierenden Stahlwerks gemacht hatte und der vertrauliche Briefe nicht nur an andere Direktoren tatsächlich existierender Werke schrieb, sondern auch an den Führer, die über den alarmierenden Stand der deutschen Rüstungsindustrie Einzelheiten mitteilten, die oft nicht erfunden sein konnten. Nun, dieser Vogel war verhältnismäßig leicht zu fangen gewesen; der Kreis der Leute, die solche Informationen besaßen wie der Briefschreiber, war verhältnismäßig klein.
Ja, Kommissar Escherich hatte einige bedeutsame Erfolge gehabt; in den Kollegenkreisen munkelte man schon, er werde bald außer der Reihe aufrücken. Es war ein ganz erfreuliches Jahr gewesen, dieser Zeitraum seit dem Selbstmord des kleinen Kluge; der Kommissar Escherich war zufrieden.
Aber dann kam eine Zeit, da standen die Vorgesetzten Escherichs plötzlich wieder vor dem Stadtplan Klabautermann still. Sie ließen sich die Fähnchen erklären, sie nickten nachdenklich, wenn auf ihre Massierung nördlich des Alexanderplatzes hingewiesen wurde, sie nickten noch nachdenklicher, wenn Escherich auf diesen interessanten Vortrupp südlich des Nollendorfplatzes verwies, und dann sagten sie: »Und was haben Sie nun für Spuren, Herr Escherich? Was für Pläne haben Sie ausgeheckt, diesen Klabautermann zu fangen? Seit dem Einmarsch in Russland ist der Bursche ja mächtig aktiv geworden! In der letzten Woche waren es ja wohl fünf Briefe und Postkarten?«
»Ja«, sagte der Kommissar. »Und in dieser Woche sind es auch schon wieder drei!«
»Also wie steht die Sache, Escherich? Bedenken Sie, wie lange der Mann jetzt schon schreibt, das kann doch unmöglich so weitergehen! Wir haben hier kein statistisches Amt zur Registrierung von hochverräterischen Karten, Sie sind ein Fahndungsbeamter, mein Lieber! Also, was haben Sie für Spuren?«
So bedrängt, beklagte sich der Kommissar bitter über die Dummheit der zwei Frauen, die den Mann gesehen und nicht angehalten hatten, die ihn gesehen hatten und nicht mal beschreiben konnten.
»Ja, ja, alles schön und gut, mein Lieber. Aber wir reden hier nicht von Zeugendummheit, wir reden von den Spuren, die Ihr kluges Köpfchen gefunden hat!«
Worauf der Kommissar die Herren wieder an die Karte führte und ihnen flüsternd zeigte, wie überall nördlich vom Alex Fahnen steckten, nur ein bestimmter, nicht sehr großer Bezirk blieb völlig frei von Fahnen.
»Und in diesem Bezirk steckt mein Klabautermann. Da legt er keine Karte ab, weil er zu bekannt ist, weil er immer befürchten muss, dass ihn ein Nachbar sieht. Es sind nur ein paar Straßen, alles kleine Leute, die da wohnen. Da sitzt er.«
»Und warum lassen Sie ihn da sitzen? Warum haben Sie nicht längst Haussuchung angeordnet in den paar Straßen? Sie müssen ihn da doch schnappen, Escherich! Wir verstehen Sie nicht, sonst sind Sie doch wirklich ganz brauchbar, aber in diesem Falle machen Sie eine Dummheit nach der anderen. Wir haben uns mal die Akten angesehen. Da ist diese Geschichte mit dem Kluge, den Sie trotz seines Geständnisses haben laufenlassen! Und dann kümmern Sie sich nicht mehr um ihn und lassen den Burschen glatt Selbstmord verüben, grade dann, wenn wir ihn am nötigsten gebrauchen! Dummheiten über Dummheiten, Escherich!«
Der Kommissar Escherich, nervös seinen Schnurrbart drehend, gestattet sich, darauf hinzuweisen, dass der Kluge entschieden mit dem Kartenschreiber nicht das Geringste zu tun hatte. Die Postkarten waren vor wie nach seinem Tode unverändert gekommen.
»Ich halte sein Geständnis, dass ihm ein Unbekannter die Karte zum Ablegen gegeben hat, für unbedingt glaubhaft.«
»Na, wenn Sie’s nur dafür halten! Wir halten es für notwendig, dass Sie nun endlich etwas tun! Ist uns ganz egal, was, aber jetzt wollen wir Erfolge sehn! Machen Sie also erst mal Haussuchung in den paar Straßen. Werden ja sehn, was dabei rauskommt.