Rudolf Alexander Mayr

Lächeln gegen die Kälte


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abends im Esszelt sitzend, mussten wir aneinander rot geränderte Augen feststellen. So ging es mit meinen Vorräten an Augensalbe und Tropfen ziemlich schnell zur Neige.

      Am ersten Tag nach der Ankunft im Basislager wurde die rituelle Zeremonie für einen glücklichen Ausgang der Expedition vorgenommen: Ein kleiner, freier Platz unweit des Lagers wurde frei geschaufelt und ein Altar aus Steinplatten gebaut. Dann sammelten die Sherpas auf großen Tabletts alle notwendigen Ingredienzen für die Feier: Schokolade, Kekse, Bonbons, Tschang, Rakhsi, Bier, Whisky, Zigaretten, Reiskörner, während andere Küchenjungen inzwischen tibetische Gebetsfahnen vom Flaggenmast in der Mitte des Altars nach allen vier Windrichtungen spannten. Diese Gebetsfahnen haben fünf Farben und sind mit Gebeten bedruckt, auf dass sie der Bergwind in alle Richtungen und zu den Göttern trägt. Sie sollen dem gesamten Universum und allem Leben Schutz und Segen bringen. Die Farben stehen für die fünf Elemente, wie man sie im Tibetischen versteht: Blau repräsentiert das Element Wasser, Weiß das Element Raum, Rot das Element Feuer, Grün das Element Luft und Gelb das Element Erde.

      Fast konnte man die Zusammensetzung unserer Expedition als international bezeichnen: Während Reinhard, Maria und ich aus dem Innsbrucker Stadtteil Kranebitten stammten, war Hannes ein Ur-Höttinger (was seine etwas seltsamen Regeln beim Kartenspiel und sein Eigensinn später bewiesen), und die Sherpas und Küchenjungen waren ethnisch über das ganze Land verteilt: Mangale war Sherpa (und Sirdar), dann kam Ang Phuri als Climbing Sherpa (Climbing Sherpa tragen Lasten erst ab dem Basislager), Salami Dawa war ebenfalls Climbing Sherpas, hatte aber die Gesichtszüge und den dunklen Teint eines Bihari (vielleicht hatte einer seiner Ahnen als durchwandernder Schneider oder Schmied einmal in einer Sherpahütte übernachtet). Übrigens hieß Salami Dawa deshalb so, weil er eben Salami gern mochte und man ihn so von Camera Dawa unterscheiden konnte, der auch ein Sherpa war und deshalb so hieß, weil er Maria an der Kamera assistierte. Dann war noch Kalden Sherpa, nun aber schon gefolgt von Bupat Rai, unserem Chefkoch, eben ein Rai, Thiren Sherpa, der Küchenjunge, Lalji Gurung, ein Gurung, Lal Bahadur und Ram Shresta, ebenso Küchenjungen. Camera Dawa übernahm die Rolle des Lama. Wahrscheinlich war er kein ordinierter Lama, aber würdig und religiös und geübt im Umgang mit den Ritualen. Sherpas sind ja keine Dogmatiker, deshalb ist ihnen auch jeder Fanatismus und jede Engstirnigkeit fremd. Dawa ist nicht nur mit der Ausstattung eines intelligenten Menschen gesegnet, sondern auch mit den Instinkten und der Orientierungsfähigkeit eines Hundes, was sich einige Jahre später, beim Auffinden eines vom Verfolgungswahn befallenen Sherpas meiner Gruppe, sehr bewähren sollte. Aber das ist eine andere Geschichte.

      Bemerkenswert an Camera Dawa war auch der Umstand, dass er sich beharrlich weigerte, auch nur ein Wort Englisch zu sprechen oder zu lernen, aber, mit den Fähigkeiten eines aufmerksamen Menschen ausgestattet, trotzdem immer das Richtige zu tun.

      In den Tagen vorher, beim Anmarsch über den Mesokantu-Pass, hatte man immer wieder vereinzelte Sherpas und Küchenjungen an den Hängen neben dem Anstiegsweg in gebückter Haltung gesehen, sie sammelten Wacholderstauden und Heilgräser in kleinen Plastiksäcken, um sie beim Opferfeuer zu verwenden.

      Der Altar war nun also aufgebaut und die Gebetsfahnen verspannt. Es war ein eindrucksvolles Bild, als sie sich nach allen vier Himmelsrichtungen in einem Radius von etwa zwanzig Metern in der leichten Morgenbrise bewegten. Lange Gebete und Segnungen folgten, während denen Camera Dawa immer wieder die Entität des Universums beschwor, indem er abwechselnd Reiskörner in die Luft warf und Rakhsi, Bier, Whisky und Tschang versprühte. Der Rauch des Opferfeuers stieg fast senkrecht vom Altar in den Himmel, und es duftete nach einem Gemisch aus Gebirgskräutern und Wacholderholz. Am Ende mussten wir, die wir reihum standen, das Ritual nachmachen. Jeder hielt eine Handvoll Reis, eine Schale mit Rakhsi und auch Bier und Whisky, und das opferten wir nun den Göttern und auch uns, indem wir zuerst die Gaben weit in die Luft warfen, dazwischen aber immer wieder von den Süßigkeiten naschen und mit Alkohol hinunterspülen durften.

      Als Camera Dawa seine Riten beendigt hatte, gingen wir wieder zur Tagesordnung über. Mangale gab seine Anweisungen, und die Köche und Küchenjungen werkten eifrig unter ihrer Plastikplane, während wir Bergsteiger unsere Zelte häuslich einrichteten. Rasch war die Sonne hinter den Weiten von Mustang untergegangen, und es wurde empfindlich kalt. So verschwanden wir einer nach dem anderen in den Zelten, um die Zeit bis zum Abendessen abzuwarten. Während ich mir mit Maria ein Zelt teilte, tat dies Hannes mit Reinhard, und so flogen die üblichen Witze und Scherzworte hin und her, bis wir auf einmal ein seltsam kratzendes, reißendes Geräusch hörten. Wir wurden sofort still und hörten angestrengt hin. Das Geräusch wiederholte sich noch einige Male und war dann verstummt. Wir öffneten die Reißverschlüsse und mussten entdecken, dass die große Schachtel mit Parmesan, die Hannes unter dem Vorzelt verstaut hatte, aufgebrochen war und der Käse fehlte. Augenblicklich gab es ein großes Hallo, und Mangale untersuchte zusammen mit uns die Spur, die von unserem Lager weg bis zu den großen Felsblöcken oberhalb des Sees führte. Es waren zweifelsfrei die Tatzenabdrücke eines größeren Raubtiers. „Ein Schneeleopard!“, stellte Mangale lakonisch fest. Auch wenn wir den Parmesan vermissten, waren wir nicht wenig stolz, die Ehre des Besuches eines Schneeleoparden gehabt zu haben, denn diese Tiere gehören zu den scheuesten des gesamten Himalaya.

      Wenige Jahre vorher hatte der Schriftsteller Peter Matthiessen zusammen mit dem weltbekannten Wildbiologen George Schaller eine Expedition in die Gegend westlich von uns unternommen und trotz ihres professionellen Verhaltens in drei Monaten nur einmal die Spur eines Schneeleoparden sichten können. Aus dieser Fahrt war das Buch „Auf der Spur des Schneeleoparden“ entstanden und ein Weltbestseller geworden.

      Wir waren uns also unseres Logenplatzes und der Ehre des Parmesandiebstahls durchaus bewusst und staunten nicht schlecht, als sich der Vorgang am nächsten Abend wiederholte. Es war noch nicht dunkel, als wir wieder ein Kratzen und Knistern direkt neben unseren Köpfen hörten, und als wir endlich die Reißverschlüsse geöffnet hatten, fehlte eine große Tafel Schokolade aus einem Karton.

      Am nächsten Abend war es schon dunkel, als wir wieder die bekannten Geräusche vernahmen. Mangale und Maria verfolgten die Spur mithilfe von Stirnlampen, kehrten aber bald zurück und beschlossen für den nächsten Abend, dem Schneeleoparden aufzulauern und ihn zu fotografieren. Während also wir Bergsteiger uns zusammen auf den Weg machten, um bei tiefem Schnee zum ersten Hochlager zu spuren und die dahinführenden Seillängen zu versichern, bastelte Maria mithilfe von Mangale und den Küchenjungen eifrig an einer Fotofalle, in die der Schneeleopard tappen sollte. Ein verlockendes Stück Fleisch wurde an einer langen Stange befestigt, ein getarnter Unterstand im Esszelt geschaffen und die Kamera schussfertig gemacht. Maria wollte die ganze folgende Nacht ausharren, um eine der seltenen Aufnahmen in freier Wildbahn, die es auf der Welt von Schneeleoparden gibt, zu schießen. Ich lieh ihr dafür meinen Sturmanzug, damit sie die Kälte besser ertragen könnte, aber das Warten sollte sich als umsonst erweisen. Sie hatte nur seine Augen gesehen, zwei glühende Lichter, die in einiger Entfernung zu unserer kleinen Zeltstadt unbeweglich im Dunkel verharrten, aber nicht näher kamen.

      In den folgenden Tagen errichteten wir am Berg Lager eins und zwei, letzteres auf sechstausendvierhundert Metern Höhe, die Zelte fest gegen Stürme am Boden verankert, die steilen Passagen zwischen den Lagern mit fixen Seilen versehen.

      Der Tag des Gipfelganges rückte näher, und wir verbrachten noch zwei Rasttage im Basislager. Der Schneeleopard ließ sich nie mehr blicken. Schließlich brachen wir zu sechst auf. Mangale, Ang Phuri und Salami Dawa waren die Climbing Sherpas, Hannes, Reinhard und ich die members. Ich fühlte mich an diesem Tag nicht sehr wohl, litt unter einer leichten Bronchitis und einem Ziehen in der Brust. Also kehrte ich knapp unterhalb von Lager eins um, und Maria und ich beobachteten von unserem Zelt in den folgenden zwei Tagen, wie unsere Mannschaft zum Gipfel stieg und wieder erfolgreich und glücklich bei uns im Lager eintraf. Wir brachen das Lager ab und erreichten am nächsten Abend nach nur einem Tag Gewaltmarsch Jomosom im Kali-Gandaki-Tal. Hier, nicht weit vom Flughafen entfernt, feierten wir gemeinsam unseren letzten Abend, verteilten Geschenke und Trinkgelder an unsere Gruppe und gingen noch einmal die Abrechnungen durch.

      Ich hatte Mangale in Dankbarkeit für seine Leistungen meinen neuwertigen Sturmanzug geschenkt und ein großzügiges Trinkgeld, doch die Abrechnungen schienen zu Tage zu bringen, dass noch immer ein größerer Betrag seiner Nachzahlung harrte.