abwesend, wodurch ihr die Begegnung mit einem der feinsten Geister der Zeit, dem Dichter der »Renaissance«, den mein Vater als den vollendeten Kavalier der alten Schule schilderte, entging.
Wie gründlich satt er der Menschheit im ganzen war, so hatte er doch keine Anlage zum Timon: dem Einzelnen kam er immer wieder mit der gleichen Güte entgegen. Wenn der jugendliche Wilhelm Raabe ihm nachrühmen konnte, dass jede Begegnung mit ihm ein Fest gewesen, so beweist es, mit welch unverlöschbarer Liebeskraft sein Herz jederzeit dem Gleichstrebenden zuflog. Auch Anfänger und Dilettanten, die sich um Rat und Förderung in dichterischen Dingen an ihn wandten, konnten der feurigsten Bereitschaft gewiss sein und einer Billigkeit zur Anerkennung, die gelegentlich fast zu weit ging. Seine Menschenliebe war so groß, dass er sogar einmal einen Menschen damit ins Unheil brachte. Er hatte auf der Neckarhalde einen Brief in den Kasten gelegt, als er, nach Hause gekommen, in seiner Brusttasche den Umschlag mit der eben empfangenen Rate seiner Besoldung vermisste. Vergeblich suchte er alle Wege ab die er gegangen war, da brachte ihm am anderen Morgen der Postbote das verlorene Geld. Gerührt von der Anständigkeit des armen Finders, schenkte ihm mein Vater die Hälfte des Betrags, ein schweres Opfer bei der wirtschaftlichen Lage der Familie. Das war des Mannes Verderben. Er vertrank das Geld, trank weiter, verlor seinen Posten und ging zugrunde.
Im Sommer 1873 brachte ein Sonnenstich, den er sich bei der Enthüllung des Uhland-Denkmals zugezogen hatte, wobei die Herren in praller Mittagsglut mit entblößtem Haupte stehen mussten, eine jähe Verschlimmerung des alten Leidens. Er hatte es geahnt und der Feier schon lange mit Misstrauen entgegengesehen. Heftige Aufregungszustände stellten sich ein, wobei er niemand um sich haben wollte als mich. Täglich musste ich ihn auf langen, sturmschnellen Gängen fliegenden Fußes begleiten; was ich damals an banger Verantwortung trug, hat mein Gedächtnis später fallen lassen, ich fand es erst in den Briefen meiner Mutter aus jener Zeit wieder. Im September trat eine tiefe Ermattung ein, er muss das nahe Ende gespürt haben, ohne dass er davon sprach. Er konnte nicht mehr. »Ruhe nun aus, armer Vogel«, schrieb er unter Anführungszeichen an den aus der Ferne treuen Anteil nehmenden Freund in seinem letzten, vom 6. Oktober datierten Brief. Am 10. ruhte er schon für immer. Das Herz war ihm buchstäblich zersprungen.
Konnte es für ein Dichterherz, das so hart gekämpft und so schwer getragen hat, ein symbolhafteres Ende geben als dieses? Die Werke, die dem großen Herzen entströmt waren, lagen da, als wären sie nie gewesen. Weshalb dieses Los einem Dichter, der den Besten seiner Tage zum mindesten ebenbürtig war? Von je haben sich die berufensten Köpfe vergeblich mit dieser Frage gemüht, die sich mit wachsender zeitlicher Entfernung immer mehr als eine allgemein kulturelle herausstellt. Nach Kriegsende schrieb mir ein so feiner Literaturkenner wie Graf York von Wartenburg, der Sohn des Geschichtsphilosophen, über diesen Gegenstand einen ungemein geistreichen Brief, aus dem ich mich nicht enthalten kann, einige Zeilen wörtlich herzusetzen: – – – »Sie werden die Geschichte von dem österreichischen Feldmarschall und Aristokraten kennen, der dem alten Goethe in Karlsbad erklärte, dass er nur seit lange verstorbene Autoren lese und zu seinen Gunsten keine Ausnahme machen könne. Ganz so schlimm treibe ich es nun nicht, aber meine Kenntnis der deutschen Literatur nach den Romantikern ist ungebührlich gering. So bin ich denn auf die Werke Ihres Herrn Vaters erst aufmerksam geworden durch die schönen Denkmale der Pietät, die Sie Ihren Eltern gesetzt haben. Ich entsinne mich, dass mein Vater inmitten schwerer Leiden Freude und Gefallen fand an des alten Kerners Haus- und Freundeskreis, wie sie von seinem Sohn geschildert werden, und ähnlich ist es mir mit Ihren Berichten über Elternhaus, Jugend und Heimat ergangen, sie haben mich erquickt in Zeiten, wo ich zu anderer Beschäftigung mich unfähig fühlte. Ursprünglichste menschliche Verhältnisse rein dargestellt wirken Teilnehmung, Anklang und Widerhall.
Aber abgesehen von mir, dem Einzelnen, scheint mir über den Schriften Ihres Herrn Vaters ein eigenartiges Verhängnis gewaltet zu haben. Tieck, sonst so aufmerksam auf weit geringere emporstrebende Talente, hat keine Notiz von ihm genommen,2 wenigstens enthält seine Bibliothek nichts von ihm, und in den vierzig- bis fünfzigtausend Bänden, die ich außer ihr besitze, fand sich ebenfalls keines seiner Werke, bis ich vor mehreren Wochen deren Fischersche Sammlung erhielt. Mehr noch, ich entsinne mich nicht, dass Dilthey, Hermann Grimm oder mein verstorbener Onkel Wildenbruch all die langen Jahre, wo ich sie sehr häufig sah, seiner gedacht hätten. Sie haben ihn wohl nicht oder nur sehr oberflächlich gekannt. – Dafür wird er weit über halb verschollene Tagesgrößen – unter die ich auch Paul Heyse zählen möchte – hinaus leben in demjenigen leider immer enger werdenden Kreise, der inmitten des nationalen Untergangs3 das, was deutsch an uns ist, repräsentiert und bewahren wird. Leben als einer unserer größten Erzähler, Otto Ludwig an Talent äqual, ihm überlegen an Breite, Vielseitigkeit und Geschichtsempfinden. Wie Storm und Raabe die Ein- und Abgeschlossenheit des Kreises, in dem sie sich persönlich und darstellend bewegen, zu poetischem Vorteil gereichte, so möchte ich glauben, dass die Enge der württembergischen Verhältnisse, die Ihren Vater so behinderte und ihm das Leben erschwerte, seinen Werken fördersam gewesen. Seit Grimmelshausen hat kein deutscher Romanzier die volle Weite äußeren Geschehens umgriffen und wie die württembergische Landschaft allen Reiz und Heimlichkeit aus der Überschneidung kleiner Linien und der Einschränkung des Blickes zieht, der sich liebevoll in die Nähe vertieft, so ist gemütsstarke Heimatliebe recht eigentlich das Kennzeichen unserer süddeutschen Dichtung. Analog ist das Verhältnis des Dichters zu seinen Kreaturen. – Sie äußern sich bewundernd über Maupassant – ich teile dies Gefühl –, aber verhält er sich nicht den Menschen gegenüber wie der Jäger zum Wilde, das er beschleicht?«4 – – –
Das Rätsel, wie ein Dichtergenius von dieser Stärke um die Wirkung auf seine Zeit und sein Volk hatte gebracht werden können, ließ den feinsinnigen Briefschreiber nicht los, dass er in einem zweiten Schreiben vom 14. Dezember desselben Jahres noch einmal darauf zurückkam.
»Abends lese ich jetzt meinen Damen den Sonnenwirt vor«, schrieb er, »und genieße ihn so doppelt durch Wiederholung und Resonanz. Aber was an den Schriften Ihres Vaters den Zeitgenossen fremd gewesen, vermag ich noch immer nicht zu begreifen. Ich will mal mit Roethe drüber sprechen, vielleicht gibt der mir einen Fingerzeig. Ohne weiteres begreift man, dass die Generation der Befreiungskriege den Schopenhauer von 1819 ablehnte, dem ja noch Goethe erst für künftige Generationen