sterben!«
Ich habe schon vor Jahren bei einem zu Stuttgart gehaltenen Vortrag, gestützt auf die persönlich mir getane Äußerung von Frau Cosima Wagner, dass sie die Tristanbearbeitung von Hermann Kurz wohl kenne, die Ansicht ausgesprochen, der Tristan Richard Wagners sei von meines Vaters Tristan beeinflusst. Doch hatte ich für diese meine Überzeugung keine anderen als die inneren Beweise. Unterdessen sind mir vollgültige literarische Zeugnisse zugekommen, die meine persönliche Auffassung bestätigen. Am ausführlichsten bei dem Wagner-Biografen Wolfgang Golther: »Tristan und Isolde in den Dichtungen des Mittelalters und der Neuzeit«, 1929. Er sagt: »Gottfrieds Gedicht kannte Wagner aus der neuhochdeutschen Bearbeitung von Hermann Kurz. Mit einer schönen und gehaltvollen Einleitung war hier auf die mythischen Bestandteile der Tristanssage hingewiesen, die auch in der Siegfriedsage wiederkehren sollten … So erschienen ihm von Anfang an Tristan und Siegfried in einer gewissen inneren Verwandtschaft. Kurz betonte im Tristan vor allem den tiefen Ernst: ›Ein alter Mythus vom Erringen und Nichterlangen oder Verlieren zieht sich halbverklungen durch diese Sagen hin, und im Tristan schimmert noch das Heroische und Tragische zwischen dem Höfischen und Modischen hervor.‹ Eben dieser tragische Faden ist mir auch in den glänzenden Geweben Gottfrieds überall sichtbar und scheint mir von der Kritik lange nicht genug beachtet zu sein: so glaube ich zum Beispiel, dass die Rede der Königin im Garten, welche unter leichten Täuschungen eine dem Lauscher wohl verständliche Wahrheit birgt, in einem Trauerspiel von erschütternder Wirkung sein würde.«
»Von diesem schönen Tristanbuch«, fährt W. Golther fort, »empfing Wagner tiefen und nachhaltigen Eindruck, der sich sogar bis in Siegfrieds Tod erstreckt.« Gemeint ist das Vergalten Gutrunes, die sich nach Brunnhildes Sterbegesang beschämt von der Leiche Siegfrieds weghebt, ein Seitenstück zu der Szene in meines Vaters Dichtung, wo es bei der Begegnung der beiden Isolden an Tristans Bahre von der eingeschobenen Legitimen heißt:
Sie schlich sich still und scheu hinaus,
Sie konnt’ es im eigenen Herzen lesen,
Dass sie das Kebsweib war gewesen.
Die beiden falschen Bräute haben sich selbst gerichtet. Dem Hinweis des Wagner-Biografen fügt der Hermann-Kurz-Forscher Heinz Kindermann in »Hermann Kurz und die deutsche Übersetzerkunst im 19. Jahrhundert« bestätigend hinzu: »Der beste Beweis für die Nachhaltigkeit von Kurzens Werk liegt doch darin, dass es auf Richard Wagner, der Gottfrieds Dichtung zuerst in Kurzens Übertragung kennenlernt, überwältigenden Eindruck macht, der nicht nur in seinem Tristan, sondern auch in Siegfrieds Tod fühlbar wird. Auf Wagner wirkt nicht nur die poetische Leistung, sondern auch der hohe sittliche Ernst, mit dem er dem Meister mittelhochdeutscher Kunst gegenübersteht.« Der Tristan hatte ja bis dahin als ein frivoles Gedicht gegolten: konnte es mir doch selber noch in jüngeren Jahren zustoßen, bedauert zu werden, dass ich einen so anrüchigen Rufnamen tragen müsse.
Aus einer ganzen Reihe literarischer Zeugnisse, die gemeinsam auf meines Vaters Dichtung als die Quelle zu Richard Wagners Tonschöpfung hinweisen, genügt es, diese zwei belangreichsten herausgegriffen zu haben. Betont wird auch, dass es die Bemerkung meines Vaters über die Bühnenwirksamkeit der Gartenszene war, die in Wagner überhaupt die dramatische Bearbeitung des Tristanstoffes anregte.
Es war das Schicksal dieses Dichters, viele Äcker zu befruchten, während seine eigene Saat im Schatten kümmerte. Als schmerzlich empfundenen, doch nicht unwillkommenen Ersatz für eigene Dichtung griff Hermann Kurz in unsern Tübinger Jahren auf die Übersetzertätigkeit seiner Jugend zurück. Sie regte ihn heiter an, besonders die Zwischenspiele des Cervantes, in deren Gesprudel er eine merkwürdig jugendfrische Ader ergoss – ich habe mich oft gewundert, warum das Theater sich ihrer nicht bemächtigt hat. In Stunden, wo er sich so verjüngte, wenn auch im Dienst einer fremden Sache, mag er sich doch ab und zu wieder als ein glücklicher Mensch gefühlt haben. Die Wortspiele der »Lustigen Weiber«, die er für die Bodenstedtsche Shakespeare-Ausgabe übersetzte, wurden gelegentlich im Familienkreis begutachtet und beraten. –
Gerne denke ich mir meinen Vater so, wie er meinem späteren Freund Ernst Mohl bei der ersten Begegnung erschien. Dieser rannte einmal als halbwüchsiger Jüngling in Tübingen um eine Ecke, als er gegen einen schönen, hochgewachsenen Mann mit gebietendem Angesicht und strahlenden Blauaugen anprallte. Der Angestoßene hielt ihn mit den Armen ab und sagte lächelnd: Wohin so stürmisch? Miene und Haltung des Unbekannten wirkten auf den Jüngling so, dass er wie verzaubert nach Hause ging, denn es war ihm, wie er mir später erzählte, zumut, als ob er einen der großen germanischen Licht- und Siegesgötter leibhaft gesehen habe.
Er war auch bei allem Misserfolg kein vom Leben Besiegter. Seine Traumwelt hatte ihn nicht verlassen. Noch stand die Poesie mit ihm auf und ging mit ihm zu Bett, durch ihren Spiegel sah er die Welt. So hatte Mörike einen großen Teil seines Lebens hindurch in der Poesie nur »als im Elemente« gelebt und hörte nicht auf, Dichter zu sein, auch wenn er völlig schwieg. Ja, er schien kaum etwas zu entbehren. Mein Vater als die viel tätigere Natur entbehrte wohl, aber er darbte nicht. Was ihm abhanden gekommen, war ja nicht die Fülle seines Geistes und Herzens, nicht das Auf- und Abwogen der dem Schöpfer dienenden Vorstellungsmasse, es war nur die magische Formel, die gestaltende Ordnung hineinbringt. Seine Forschungen über Shakespeare und Gottfried von Straßburg waren immer noch eine Art von dichterischer Tätigkeit, weil er mit jedem Wort, das er über seine Lieblinge schrieb, zugleich seiner eigenen inneren Welt Gestalt gab. Es war eine erlauchte Gesellschaft, mit der er, der Mitlebenden müde, Umgang pflog. Wenn er einen Brief an Heyse vom Schlachtfeld von Marathon datiert, über das er eben Studien machte, dann mit einem Shakespeare-Zitat beginnt, dem unmittelbar eins aus Rabelais folgt, um nach einer Reihe historischer und mythologischer Anspielungen mit einer ländlichen schwäbischen Redensart zu schließen, so war das kein totes Buchwissen, sondern allseitiger lebendiger Verkehr mit der immer gegenwärtigen Geisterwelt.
In seinen letzten Lebensjahren milderte sich wenigstens der Druck der Sorgen über dem Haupte des Dichters. Der erfolgreiche »Deutsche Novellenschatz«, den er mit Heyse bei Oldenbourg in München herausgab, lieferte die immer sehnlich erwarteten »Hilfstruppen aus dem Oldenbourgischen«, die dem Haushalt so nottaten. Die Söhne, den schwer leidenden Jüngsten ausgenommen, studierten mit Auszeichnung; dass ich an dem