wissenschaftlich unbeschwerten Geist, der auch einmal Gedachtes wieder umdenkt. »Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.«
Dass meinem Vater nicht nur der volle Dichterkranz, der ihm gebührte, vorenthalten worden ist, dass sogar dem Gelehrten und Forscher Hermann Kurz die Anerkennung für seine bahnbrechenden Funde und Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiet Schritt für Schritt bestritten wurde, wird einen künftigen, ins einzelne eindringenden Biografen noch zu beschäftigen haben. 1906 schrieb mir Otto Crusius, der Gräzist und Poet: »Dass ich in Ihrem Vater nicht nur auf germanistischem, sondern gar auf klassisch archäologischem Gebiet einen Fachgenossen von genialer Kraft zu verehren habe, war mir neu. Sie kennen doch die enthusiastischen Worte, mit denen eben Furtwängler (in der Jubiläumsschrift unserer Akademie) ihn gepriesen hat als den ersten Entdecker des Aphäaheiligtums auf Ägina. Diese wissenschaftlichen Aufsätze gehörten eigentlich gesammelt neben seine Dichtungen, um das Bild des ganzen Mannes zu vollenden, wie Uhlands Schriften für Sagen- und Literaturgeschichte.«
Der Fund, von dem Furtwängler spricht, war nur im Vorübergehen gemacht und teilte das Los der anderen wissenschaftlichen Arbeiten meines Vaters, von den Zünftigen zum Teil verurteilt, zum Teil niedergeschwiegen zu werden! Nur zu wohl erinnere ich mich noch aus Kindertagen dieser Schollenwürfe auf das Haupt eines Lebendigbegrabenen.
Wer soll nun also die richtende Waage halten über einen Genius, dem sein Jahrhundert nicht gewachsen war, vor dem die Literaturgeschichte versagte und an dem sogar der Spruch der Dichtergenossen, nach ihren eigenen, schwächeren Maßen zugeschnitten, fehlging? Ich denke, die Zeit, die ihr Gottesurteil schon damit gesprochen hat, dass sie das Werk des Dichters unverwelkt der Zukunft entgegentrug.
Neuerdings ist nun doch wenigstens dem Forscher und Gelehrten Hermann Kurz aus der Fachwissenschaft selbst ein mit allem gelehrten Rüstzeug ausgestatteter Kämpe erstanden in Professor Heinz Kindermann, in seiner grundlegenden kleinen Schrift »Hermann Kurz als Literarhistoriker«, worin das so gut wie unbekannte und doch so vielsagende wissenschaftliche Lebenswerk des Dichters ans Licht gehoben ist. Es darf nahezu als eine Entdeckung gewertet werden, dass der Verfasser in Hermann Kurz »eine der interessantesten, weil vielseitigsten und entwicklungsfähigsten Dichterpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts« erkannt hat. »Philosophische und literarhistorische, politische und archäologische, kulturhistorische und anthropologische Arbeiten«, sagt er, »entstehen da mitten zwischen seinen dichterischen – und daneben erwächst überdies eine übersetzerische Arbeit, die ihrem Umfang und ihrer Qualität nach allein ein Lebenswerk für sich bedeuten könnte.« Eben dieser übersetzerischen Tätigkeit hat derselbe Gelehrte schon 1918 die bereits angeführte Studie »Hermann Kurz und die deutsche Übersetzungskunst im 19. Jahrhundert« gewidmet und darin mit außerordentlicher Spürkraft die weit verstreuten, fast unübersehlichen, aus allen Bereichen und Zonen stammenden Früchte der Verdeutschungskunst meines Vaters zusammengefasst.5 Mit Recht sieht der Verfasser an dieser ausgeschütteten Fülle eingeheimsten Fremdgutes das Streben nach einer deutschen Weltliteratur und einen erfolgreichen Kampf für die Weltgeltung deutschen Geistes.
Ich kann nicht ohne stille Trauer daran denken, dass ich neben diesem weltenweiten Genius heranwachsen durfte und doch nicht anders an ihm teilhaben als durch die schweigende Luft, die ihn umgab, und dass ich mir später von dem entgangenen Erbgut Stück für Stück, soweit es mir erreichbar, allein erwerben musste. War’s, dass seiner Natur jeder lehrhafte Zug fehlte und er nur zu eingeweihten Geistern über das sprechen mochte, was ihn innerlich erfüllte? Oder war’s, dass er sein Schweigen überhaupt nicht mehr brechen konnte, hinter dem er das bittre Leid seines Lebens so streng verbarg, dass seine Umgebung nichts davon empfand? War’s meine eigene Schuld? Die Unreife und Scheue meiner Jugend, dass ich es verschob, ihn nach so manchen Dingen zu fragen, bis unversehens die Stunde da war, wo es keine Antwort mehr geben konnte. – Ich habe nie begriffen, dass man sich in den unbekannten Reichen eine Fortdauer in der eigenen irdischen Persönlichkeit wünschen mag, da es doch nunmehr an der Zeit schiene, auf eine höhere Stufe zu gelangen und das hier Erlebte, bis zu Ende Gekostete, von sich zu tun. Wenn ich mir aber doch ein Wiedersehen denken könnte, so wäre es mit der ruhevollen Größe und Güte meines Vaters, der mir ein unerfülltes und unvollendetes Stück Leben geblieben ist. Es war einer der schönsten Träume, die ich je geträumt habe, dass er mir einmal in eigener Gestalt, aber das Haupt in ein unbeschreibliches Licht getaucht, auf einem Friedensgefilde schnell und freudig entgegenkam; es schien mir, dass er mit mir zufrieden sei und dass er wohl wisse, wie viele Lanzen ich für ihn gebrochen habe. Mir aber war bei dieser Begegnung zumute, als sei nun endlich der alte Schmerz gesühnt und ihm sein Recht geworden.
Kurz vor Ausbruch des Weltkriegs wurde zwischen dem jugendlichen Begründer und Inhaber des Georg-Müller-Verlags und mir eine Gesamtausgabe von Hermann Kurz vereinbart, die schlechterdings ganz vollständig sein sollte, alle dichterischen und wissenschaftlichen Werke, Gedrucktes und Ungedrucktes, je mehr desto besser, die Übersetzungen mit Einschluss des Tristan und sogar des dreibändigen »Rasenden Roland«, der »Lustigen Weiber« und der »Zwischenspiele«, dazu einen Band Briefe oder zwei, den köstlichen Text zu Konewkas »Falstaff und seine Gesellen«, ja – so weit ging die Großzügigkeit dieses Verlags – auch die dazugehörigen Scherenschnitte, um das Verständnis des Textes zu erleichtern. Es wäre ein ganz großes und gewaltiges Werk von unübersehlicher Vielseitigkeit geworden, das den Manen des großen Toten Genüge getan hätte. Was diesmal dazwischentrat, das war kein persönlicher Unstern mehr, sondern ein Weltverhängnis. Und noch in den ersten Kriegsmonaten wurde das Unheil unwiderruflich, weil eine jähe Krankheit den unerschrockenen jungen Verleger hinwegriss.
Was jugendlicher Wagemut und Opfersinn eines Einzelnen geplant hatte, ist niemals später zustande gekommen. Wird nicht im Dritten Reich, das sich die Wahrung aller nationalen Güter zum Ziel gesetzt hat, endlich einmal eine Hermann-Kurz-Gesellschaft zusammentreten, um die Bergung der wie Strandgut an den Zeitufern ausgeworfenen dichterischen Ladung des deutschesten Dichters durchzuführen? Wer immer in der Zukunft an diese Aufgabe herantreten mag, der sorge dafür, dass neben den erzählenden Werken, die ja einzeln nie aus dem Buchhandel verschwunden sind, auch die längst vergriffenen und die