Prädikate, die mir in Vers und Prosa beigelegt waren und sich zu der Bezeichnung die »Blauseidene« verstiegen – ein kühn gefundenes Wort, weil ich gar kein blauseidenes Kleid besaß –, gaben ihm ein willkommenes Stichblatt, mit dem er mich wieder einmal eine Zeit lang grimmig lachend verfolgen konnte.
Der Jüngling durfte kommen, denn ich sehnte mich nach der Sprache meiner Götter, die mir damals noch unbekannt war. Allein der Arme erregte gleich durch sein zerwühltes Aussehen und seine starren Blicke ein peinliches Bedauern, dass auch Alfred die schlechten Witze vergingen. Er war der Sohn einer altangesehenen Theologenfamilie, die einen poetischen Einschlag hatte, was bei schwäbischen Pfarrern keine Seltenheit war. Eine vielleicht zu engherzige religiöse Erziehung mochte ihn in Gewissenszwiespalt mit den Mächten der irdischen Natur gebracht haben, wodurch er in religiöse Zweifel und Wahnvorstellungen stürzte. Die Folge war ein Selbstmordversuch, wovon er die schauerlichen Spuren an den Handgelenken trug. Meine Brüder nahmen sich seiner an und suchten seine philosophische Unruhe mit ihren jungen naturwissenschaftlichen Waffen zu bekämpfen. Mir schrieb er lange, von Geisteszerrüttung eingegebene Briefe, worin er Gott seinen ärgsten Feind nannte und sich vermaß, mit der Schönheit durch die Hölle zu tanzen. Sein Wesen wurde mehr und mehr unheimlich. Von Griechisch war natürlich keine Rede, und die Brüder gaben wohl acht, ihn nie mit Mutter und Schwester allein zu lassen. Eines Abends aber bereitete er uns einen heftigen Schrecken. Die Brüder waren früher als sonst ausgegangen, der Vater wohnte ein Stockwerk höher und teilte unsere Mahlzeiten nicht, daher saßen wir beiden Frauen allein an dem eben abgespeisten Tisch. Absperrbare Gangtüren gab es damals nicht im Hause, ein Klopfen an der Tür, und der Besuch stand im Zimmer. Er benützte die Gelegenheit, mir in einer langen, offenbar vorbereiteten aber durcheinandergekommenen Rede zitternd und stammelnd Herz und Hand anzutragen. Obgleich tödlich erschrocken, fand ich doch, da er beim Reden zu Boden blickte, die Möglichkeit, mit schnellem Griff alles Schneidende und Stechende vom Tisch zu entfernen, und antwortete mit gleichfalls vielen, möglichst verschwommenen Worten ungefähr im Sinne des philosophischen Eros, während ich von Mama, die in kritischen Momenten die Fassung zu verlieren pflegte und wie entgeistert dasaß, umsonst Verstärkung erhoffte. Der Ärmste ging auf die Tonart ein, fragte aber beklemmt, ob man denn eine so unfassbare, ganz ins Gedankliche verflüchtigte Sache überhaupt noch Liebe nennen könne. Ich hakte schnell wieder ein: Was liegt am Namen? – und verbreitete mich über dieses neue Thema mit einer mir selber unbegreiflichen Suada, während mir die Angst im Nacken saß. Gerade zur rechten Zeit kam, wie von einem guten Geist geführt, Edgar zurück. Er übersah sofort die Lage, bemächtigte sich scherzend des Unglücklichen, der bei seiner Berührung willenlos wurde und sich von ihm zu einem langen Abendspaziergang fortführen ließ. Unterwegs nahm er ihm das Versprechen ab, andern Tages die Musenstadt verlassen und nach Hause zurückkehren zu wollen; er selber würde ihn eine Strecke weit zu Fuß begleiten. Er holte ihn auch wirklich am nächsten Vormittag in Gesellschaft eines anderen Freundes ab, und die beiden brachten ihn auf den Weg nach dem Schönbuch. Er schwenkte jedoch von der Straße ab und begab sich in ein befreundetes Pfarrhaus, wo er der Tochter gleichfalls sein heimatloses Herz antrug und von dieser gleichfalls mit guten beschwichtigenden Worten entlassen wurde. Aber sein Geschick war nicht zu wenden; ein paar Jahre später hörte man, dass er seinen tragischen Vorsatz doch noch wahr gemacht hatte. Es war dies einer der Fälle, wo Wahnsinn oder Halbwahnsinn, wenn er in meine Nähe kam, sich magisch zu mir gezogen fühlte, ob Verwandtschaft oder Heilung suchend, weiß ich nicht.
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Auch in meinem eigenen, mir abholden Geschlecht gab es freundliche Ausnahmen. In unserer Nachbarschaft wohnte ein schönes, wohl zehn Jahre älteres Mädchen, das mir immer, wenn ich am Hause vorbeiging, von ihrem hohen Fenster mit den Augen folgte. Gewohnt, in solchen Blicken wenig Wohlwollen zu lesen, zählte ich auch sie im stillen zu meinen Widersacherinnen. Da trafen wir uns eines Abends bei einer verarmten italienischen Gräfin zu gemeinsamem Unterricht in deren Muttersprache und waren von Stunde an Freundinnen. Die Italienerin starb jählings weg, wir aber setzten die begonnene italienische Stunde selbstständig bei uns im Hause fort. Später gestand sie mir, dass sie sich lange Zeit glühend gewünscht habe mich kennenzulernen, und dass sie dann bei jener ersten Begegnung vor Herzklopfen nicht zu sprechen vermochte. So steht kein Erwachsenes vor einem Kinde, was ich damals noch war, wenn es nicht in diesem Kinde gleichfalls das Symbol für irgend etwas Geahntes, Unausgesprochenes erblickt. Das edle Herz hielt mir lebenslang die Treue, und später, als ich mich einmal unter ihrem gastlichen Dach in Sitten aufhielt, hat sie mir mancherlei tragikomische Züge aus ihren eigenen Kleinstadterinnerungen geliefert, die ich meiner Heimatnovelle »Das Vermächtnis der Tante Susanne« einverleiben konnte. Sie war auch nicht die einzige, die zu mir fand. In der Nähe des Marktes, wo unsere Wohnung lag, lebte ein anderes junges Mädchen, zart und leidend, früh an Schwindsucht hinsterbend, das mir durch unseren Reitkameraden, dem sie heimlich verlobt war, wiederholt Grüße sandte und den inständigen Wunsch, mich kennenzulernen. Ich besuchte sie an ihrem Lager und habe später in meinem Idyll »Wie die Jugend liebt« ihre frühgeschiedene Lieblichkeit zum Modell genommen. So zartes und keusches Lieben wie in dem genannten Gedicht gab es noch in der damaligen Jugend; die Entfesselung aller Naturtriebe setzte sich erst eine spätere Generation zum Ziel.
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Von diesen freundlichen Ausnahmen abgesehen lagen Acht und Bann auf mir. Dass die Eltern keinen Familienverkehr pflegten und ich somit nirgends eingeführt war, erleichterte die Ausschließung und erklärte sie auch einigermaßen, wie ich billigerweise hinzusetzen muss. Es gab keine Kinder- und Familienfeste, zu denen ich geladen wurde, keinen Chor, in dem ich hätte mitsingen können, kein Liebhabertheater, wo man mich dabei wollte. Und man hielt mich für hochmütig, während ich ein schmerzliches Verlangen nach Mitdabeisein, nach Gemeinschaft in mir herumtrug und mir trotz dem reichen Leben, das ich besaß und das mir von allen beneidet war, den Wert des Versagten noch weit übersteigerte. Das alles hatte ich in mir allein zu verarbeiten, denn mich einer Freundesseele zu eröffnen verbot mir der Stolz, meinem Vater aber durfte ich, meiner Mutter konnte ich nicht sagen, wie mir zumute war. Er hätte sich gegrämt, seinem geliebtesten Kinde nicht gegen Dummheit und Bosheit helfen zu können, sie hätte gar nicht verstanden, was mich dabei anfocht. Dass mich die Philister verketzerten? Dafür waren sie ja Philister. Und