Isolde Kurz

Gesammelte Werke


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die mei­nem El­tern­hau­se den Stem­pel ga­ben. Ich woll­te kei­ne trau­ern­de, son­dern eine sin­nen­de Muse, des­halb ver­fiel ich auf eine Nach­bil­dung der an­ti­ken Po­ly­hym­nia, zu der mich mein Va­ter oft in dem fei­er­li­chen An­ti­ken­saal der Schloss­bi­blio­thek wo er wal­te­te ge­führt hat­te. Der be­nach­bar­te Höl­der­lin schlief un­ter der un­säg­li­chen Schwer­mut der bis zur Erde hän­gen­den Trau­er­wei­den, tief ver­bor­gen und halb ver­ges­sen, wie er es im Le­ben ge­we­sen; ich freu­te mich der stei­len Wip­fel des deut­sche­s­ten Bau­mes über dem Haupt ei­nes der deut­sche­s­ten Dich­ter. Ich hat­te mei­nem Her­zen Ge­nü­ge ge­tan, mein »Dä­mon« war mit mir zu­frie­den! Dann trat ich mit we­ni­gen Mark in der Ta­sche, die un­se­re teu­re Jo­se­phi­ne her­gab, die Fahrt nach Mün­chen an. Dass ich den Vor­schuss nicht an­ders er­stat­ten konn­te als durch den be­schei­de­nen Denk­stein, den ich ihr spä­ter sel­ber in Flo­renz auf dem Fried­hof Agli Al­lo­ri setz­te, war mir le­bens­lang ein Sta­chel.

      Jetzt nahm ich tie­fe Atem­zü­ge in der Frei­heit. Die ewi­ge Pein um die Lie­ben zu Hau­se war ab­ge­fal­len, da die zwei un­glei­chen Brü­der Män­ner ge­wor­den wa­ren, die sich un­ter­ein­an­der und der Mut­ter bei­stan­den. Ed­gar als blut­jun­ger Do­zent hat­te Al­fred un­ter sei­nen Hö­rern; das be­en­dig­te ganz von selbst die Kna­ben­feh­de. Wohl schrieb Müt­ter­lein ihre kla­ge­vol­len su­per­la­ti­vi­schen Brie­fe, aus de­nen ein Un­ein­ge­weih­ter lau­ter Un­heil hät­te ent­neh­men müs­sen. Aber Bal­de, das treue Bru­der­herz, sand­te heim­lich be­ru­hi­gen­de Zei­len nach. Für nichts auf der Welt zu sor­gen ha­ben als für sich selbst – ein un­fass­ba­rer Glücks­stand! Da­bei war ich nicht ein­mal al­lein, denn Er­win teil­te als jun­ger Aka­de­mi­ker mei­ne Münch­ner Woh­nung; wenn er auch sei­ne ei­ge­nen Wege ging, so hat­te doch je­des ein Stück Hei­mat bei sich. In­ner­halb von sechs Mo­na­ten war mei­ne Stel­lung in Mün­chen ge­macht. In der li­te­ra­ri­schen und künst­le­ri­schen Ober­schicht hat­te ich mir einen er­le­se­nen Freun­des­kreis er­wor­ben, mei­nen Un­ter­halt be­stritt ich durch Sprach­un­ter­richt und Über­set­zun­gen. Manch­mal nahm ich erst mor­gens im Bet­te den Ab­schnitt durch, der gleich im Un­ter­richt dar­an­kom­men muss­te, und mach­te da­bei die Er­fah­rung, dass man am bes­ten lehrt, was man eben sel­ber noch nicht ge­wusst hat.

      Aber auch Mün­chen war noch nicht die mir be­stimm­te Stät­te. Hät­te ich blei­ben und mich völ­lig an­pas­sen kön­nen, so hät­te wohl bald ein güns­ti­ger Wind mei­ne Se­gel er­fasst und mich einen be­que­me­ren und sich­re­ren Kurs ge­führt als den mir vor­be­schrie­be­nen. Aber die­se Lö­sung wäre zu ein­fach ge­we­sen, ich muss­te zu­vor noch einen wei­ten Bo­gen be­schrei­ben. Was war es, das mein Dä­mon mit mir vor­hat­te? Heu­te weiß ich es: ich soll­te nichts der Gunst und Gön­ner­schaft ver­dan­ken, um in­ner­lich ganz frei zu sein, soll­te künst­le­risch nir­gends An­leh­nung fin­den, kei­ner Strö­mung einen Zuf­luss brin­gen und auch von kei­ner ge­tra­gen wer­den, son­dern mich sel­ber durch Ge­klüf­te quä­len, un­ter Fel­sen durch­wüh­len, statt des ra­schen brau­sen­den Laufs, den ich mir er­hofft hat­te, mich mä­an­drisch durch eine klein­lich hin­dern­de Ebe­ne win­den, soll­te wie mein ge­lieb­tes­ter Strom, die Do­nau, im Bo­den ver­si­ckern, ehe sie durch­bricht nach ih­rem Zu­kunfts­land.

      Im Früh­jahr 1877 kam Ed­gar »der Plötz­li­che«, wie sie ihn im Ver­wand­ten­kreis nann­ten, auf der Durch­rei­se nach Ita­li­en zu mir. Auch ihm wa­ren die Ster­ne der Hei­mat nicht güns­tig ge­we­sen. Er hat­te trotz ge­nia­ler Be­ga­bung und er­prob­ter Tüch­tig­keit nir­gends im Land eine An­stel­lung ge­fun­den, weil er sich in Auf­tre­ten und An­schau­ungs­wei­se dem Phi­lis­ter­tum nicht an­pas­sen konn­te. Gön­ner­schaft gab es nicht für die Kur­zi­schen, und im Lan­de der Vet­tern und Ba­sen hat­ten wir na­he­zu kei­ne. Mein Va­ter be­saß nur einen Bru­der, der ihn nicht lan­ge über­leb­te, und mei­ner Mut­ter wa­ren die Brü­der weg­ge­stor­ben, be­vor sie ge­bo­ren wur­de, auch wa­ren die Brun­nows nicht im Lan­de an­säs­sig. Jetzt woll­te er es in Flo­renz ver­su­chen und, so­bald er Fuß ge­fasst hät­te, Mama mit Bal­de und Jo­se­phi­ne nach­ho­len; von mir hoff­te er, dass ich mich dann gleich­falls an­schlie­ßen wür­de. Auch mit ihm ging das Glück, denn schon im Au­gust konn­te er be­rich­ten, dass er fes­ten Bo­den un­ter den Fü­ßen hat­te. Es war da­bei auf eine Wei­se zu­ge­gan­gen, die nahe ans Wun­der­ba­re streif­te: er hat­te bei ei­nem rus­si­schen Kind, das kei­ne Nah­rung be­hal­ten konn­te und lang­sam Hun­gers starb, al­len an­de­ren ärzt­li­chen Dia­gno­sen ent­ge­gen, einen äu­ßerst sel­te­nen Fall, näm­lich einen Sack in der Spei­se­röh­re, der die ge­trun­ke­ne Milch zu­rück­hielt und nach ei­ni­gen Stun­den un­ver­daut wie­der­gab, durch blo­ße Geis­tes­schär­fe – denn man wuss­te ja noch nichts von Rönt­gen­strah­len – er­kannt und fest­ge­stellt. Durch die Si­cher­heit sei­nes Blicks und die Fes­tig­keit sei­nes Auf­tre­tens hat­te der vier­und­zwan­zig­jäh­ri­ge deut­sche Arzt, der bei sei­ner zar­ten, fast mäd­chen­haf­ten Schön­heit noch jün­ger aus­sah als er war, im Handum­dre­hen ein An­se­hen er­langt, das ihm ge­stat­te­te, sich in ei­nem Welt­mit­tel­punkt wie Flo­renz eine nicht mehr zu er­schüt­tern­de, wenn auch rings von kol­le­gia­len An­fein­dun­gen um­la­ger­te Stel­lung zu schaf­fen. Aus Flo­renz er­reich­te mich sein Ruf: Kom­men! Aus Tü­bin­gen scholl es ver­stärkt her­über: Kom­men! Mit­kom­men! So lieb mir Mün­chen ge­wor­den war, ich ver­stand den Ruf des Schick­sals und sag­te: Ja.

      Ent­schlüs­se von sol­cher Fol­gen­schwe­re wer­den nicht durch Über­le­gung ge­trof­fen, es wirkt da­bei wie in al­lem Schick­sal­haf­ten ein Ir­ra­tio­na­les, bes­ser ge­sagt, ein Über­ra­tio­na­les mit. Aus dem da­ma­li­gen deut­schen Le­ben ent­rückt zu wer­den war be­deu­tungs­vol­ler, als ich sel­ber es zur Zeit ah­nen konn­te. Deutsch­land stand im Glan­ze Bis­marcks, der eben erst das bren­nen­de Seh­nen der Deut­schen nach ei­nem deut­schen Reich ge­stillt hat­te. Wir stan­den als große Na­ti­on gleich­wer­tig bei den an­dern großen Na­tio­nen, ge­ehrt, be­wun­dert, wenn auch nicht ge­liebt. Muss­te es da nicht als Un­dank, ja als Fre­vel er­schei­nen, auf ir­gend­ei­nem Punk­te an Ihm, der uns das al­les ge­schenkt hat­te, ja nur an ei­ner ein­zi­gen sei­ner Maß­nah­men zu zwei­feln. Zu­gleich trat aber auch schon da­mals im ers­ten Jahr­zehnt der Reichs­grün­dung die Kehr­sei­te her­vor in dem plötz­li­chen Ein­bruch des Grün­der- und Stre­ber­tums, in dem Nie­der­gang al­ler Hoch­zie­le – das Wort Ide­al war gar nicht mehr zu brau­chen, es trug schon den Stem­pel des Veral­te­ten, Ab­ge­stan­de­nen. Die be­wun­der­te Re­al­po­li­tik des Gro­ßen, wie er sie un­be­denk­lich auf die höchs­ten Be­lan­ge der Na­ti­on an­wand­te, wur­den von den Klei­nen auf ihre klei­nen per­sön­li­chen Ge­schäf­te über­tra­gen. Ein hö­he­res Stre­ben, das be­deu­te­te jetzt das Stre­ben nach ho­hen Pos­ten und ein­träg­li­chen Äm­tern, nach Ti­teln und Or­den. Da­mals reg­te sich aber auch schon ein ah­nen­des Miss­be­ha­gen un­ter de­nen, die Geist hö­her schätz­ten als Macht und Geld; es be­gann teil­wei­se eine wenn nicht po­li­ti­sche, so doch kul­tu­rel­le Ab­wen­dung un­ter der hö­he­ren Geis­tig­keit: man­chen der bes­ten Deut­schen schi­en es, als hät­ten sie ihre geis­ti­ge Hei­mat ver­lo­ren. Der Hin­weis auf den Be­ginn die­ses Zu­stands in mei­ner Her­mann-Kurz-Bio­gra­fie ver­an­lass­te spä­ter mei­nen Freund Otto Cru­si­us zu der brief­li­chen Be­mer­kung, dass er das glei­che ver­schwie­ge­ne Miss­ge­fühl auch bei Roh­de und Nietz­sche ge­fun­den habe; er hät­te auch Richard Wa­gner hin­zu­fü­gen